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Beslan-Opfer sollen Ruhe in der Schweiz finden

Ihr Aufenthalt in der Schweiz soll den ehemaligen Geiseln bei ihrer Vergangenheits-Bewältigung helfen. swissinfo.ch

21 Überlebende des Massakers von Beslan sind in der Schweiz auf einer Studien- und Rehabilitations-Reise.

Die Gruppe setzt sich aus den 1200 Kindern, Eltern und Lehrpersonen zusammen, die von Terroristen in ihrer Schule in Nordossetien im September 2004 festgehalten wurden.

Die Geiselnehmer, die hauptsächlich aus dem benachbarten Tschetschenien stammten, hielten die Geiseln in einer mit Bombenfallen gesicherten Turnhalle drei Tage in ihrer Gewalt.

Der Sprengstoff war an Balken und Basketball-Körben befestigt und Geiselnehmer hielten die Gefangenen in Schach indem sie auf Detonations-Pedalen standen.

Es gab keine Nahrung und nach ein paar Stunden stellten die Terroristen das Wasser ab. Sie drohten den Geiseln sie zu erschiessen, wenn sie nicht ruhig seien.

Mehr als 330 Menschen starben – die Hälfte davon Kinder – durch die Explosion und durch das Gewehrfeuer zwischen den Angreifern und den Sicherheitskräften, die das Drama beenden sollten.

Viele der Überlebenden wurden traumatisiert durch die blutigen Szenen, die sie miterleben mussten. Sie sind immer noch auf psychologische Unterstützung angewiesen.

Hochschulprojekt

Studenten der Ecole Professionnelle Commerciale de Nyon in der Nähe von Genf erlebten den Horror am Fernsehen mit. Sie entschieden sich, einen Teil ihres Jahresabschluss-Projekts den Opfern zu widmen.

So wurde die Idee einer Studienreise in ihre Stadt am Genfersee ausgearbeitet. Ihr Lehrer, Marek Mogilewicz, organisierte freie Flugreisen in die Schweiz für 25 Personen. Mit Inseraten in der Lokalzeitung fand er Gastfamilien.

In die Schweiz kamen 21 Zehnjährige, drei Lehrpersonen und eine Psychiaterin. Fünf Kinder kehrten nach einer Woche nach Hause zurück.

Gleich nach ihrer Ankunft in der Schweiz Anfang März begann auch schon der Unterricht. Die Kinder werden nach dem russischen 4. Klasse-Primarschul-Lehrplan von ihrer eigenen Lehrerin unterrichtet. Nachmittags erhalten sie Französisch-Unterricht.

Ausserhalb der Schule werden Judo-Kurse angeboten und eine Tanzschule hat Gratislektionen offeriert.

Eine Zirkusschule wird den Kindern nach Ostern Kunststücke beibringen und eine lokale Bäckerei zeigt, wie Brot hergestellt wird. «Sie erfahren wirklich viel Solidarität von der unserer Gemeinschaft», sagt Mogilewicz gegenüber swissinfo.

Die Gastfamilien nehmen die Kinder mit zu Reisen durch Schweiz oder besuchen mit ihnen das lokale Hallenbad.

Heilung

Diese Ablenkungen beschleunigen den Heilungsprozess. Es gibt jedoch keine Garantien, dass die psychischen Wunden jemals ganz verheilen werden.

Laut der Psychologin Larisa Lukanova, welche die Gruppe in der Schweiz begleitet, leiden viele unter Ess- und Schlafstörungen. «Einige wurden aggressiv, andere verhalten sich zu passiv», sagt sie.

Seit dem Beginn der Reise hat sie jedoch eine Verbesserung ihrer mentalen Gesundheit feststellen können.

Ein Beispiel dafür ist Diana Daurova. Es war ihr bisher unmöglich, mit ihren Mitschülerinnen und –schülern zu sprechen. Sie hat bei dem Blutbad von Beslan ihren Bruder verloren. Nun, dank dem Kontakt mit ihrer Gastfamilie, spielt sie zufrieden und plaudert mit den anderen.

Auch ihre Lehrerin, Svetlana Kozyreva, fühlt sich viel besser. «Ich habe nicht mehr so viel Angst. Ich muss nicht zum Fenster rennen, wenn ich draussen ein kleines Geräusch höre», sagt sie.

«Ich hoffe, niemand muss so etwas erleben was wir durchmachen mussten», fügt sie hinzu. «Wir möchten nun einfach weitergehen und unser Leben leben, geradeso wie alle anderen.»

Mehr Hilfe nötig

Nach der Schweiz–Reise muss Svetlana Kozyreva ihre Lehrtätigkeit wieder in Beslam ausüben, in einer Schule, um die bewaffneten Wachen patrouillieren. Diese Sicherheits-Vorkehren sind gemäss den lokalen Behörden lebenswichtig, da die Grenze zu Tschetschenien nahe ist.

Die Beslan-Überlebenden brauchen auch nach ihrer Heimkehr Hilfe aus der Schweiz, sagt Mogilewicz. Er möchte die Kinder unterstützen bis sie die 10. Klasse abgeschlossen haben. Dafür ist er bereits die Schweizer Regierung vorstellig geworden.

«Wir müssen die psychische Gesundheit dieser Kinder verbessern», sagt er. «Möglicherweise können wir einen Teil ihres erlittenen Traumas löschen.»

Die Schweiz fördert bereits ein Therapie-Programm in einer Sporthalle in der Nähe der Schule. Das Projekt, das von der Schweizerischen Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA finanziert wird, will den Überlebenden mit zahlreichen Tätigkeiten wie Kunst, Spiel und Sport helfen, ihre Lebenskraft zurück zu gewinnen.

swissinfo, Julie Hunt in Nyon
(Übertragen aus dem Englischen: Etienne Strebel)

Mehr als 330 Menschen starben nach einer Geiselnahme durch tschetschenische Rebellen in einer Schule im nordossetischen Beslan.

Ein Geiselnehmer wurde verhaftet, die andere starben, als Spezialeinheiten die Schule stürmten.

Vier weitere Personen wurde später unter dem Verdacht verhaftet, bei der Aktion mitgeholfen zu haben.

Der tschetschenische Rebellenführer Schamil Bassajew hat die Verantwortung für diese Attacke übernommen.

Überlebende des Geiseldramas von Beslam weilen für drei Monate in der Schweiz. Das Projekt soll ihnen helfen, die Tragödie zu verarbeiten.

Zusätzlich zum normalen Unterricht in russischer Sprache lernen sie Französisch und nehmen an verschiedenen ausserschulischen Aktivitäten teil.

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