Biometrische Pässe und Komplementärmedizin an der Urne
Mehr Überwachung oder mehr Sicherheit? Schweizerinnen und Schweizer stimmen am Sonntag über die umstrittene Einführung neuer biometrischer Pässe ab. Die zweite Vorlage über die Unterstützung der Komplementärmedizin sorgt für weniger Schlagzeilen.
Als der Schweizer Pass 1915 eingeführt wurde, war er dunkelgrün. Jetzt – inzwischen rot geworden – ist er daran, ins biometrische Zeitalter einzutreten. Damit wird die Schweiz den Ländern der Europäischen Union EU folgen, die jetzt alle biometrische Dokumente mit elektronischem Foto ausgeben. Die Fingerabdrücke folgen noch.
Um sich dieser Entwicklung und den Auflagen des Schengen-Raumes anzupassen, aber auch um den amerikanischen Sicherheitsnormen nachzukommen, hat Bern die Gesetzesrevision über die Identitätsdokumente in Angriff genommen.
Am Sonntag bestimmt das Schweizer Stimmvolk, ob es künftig in seinem Pass ein elektronisches Portrait-Foto und zwei Fingerabdrücke haben will oder nicht. Damit sagt es gleichzeitig auch Ja oder Nein zur Errichtung einer zentralen Datenbank, in der diese biometrischen Informationen erfasst werden sollen.
Und das ist der Kernpunkt der Debatte. Die Schweiz will eine solche zentrale Datenbank einrichten – im Gegensatz zu Deutschland, das kürzlich auf einen solchen Schritt verzichtet hat. Das Schengen-Abkommen verlangt keine derartige Datenbank.
Ein überparteiliches Komitee aus linken Gruppierungen, dem aber auch die Schweizerische Volkspartei (SVP) angehört, hatte das Referendum dagegen ergriffen. Im Oktober 2008 kam es mit 63’733 gültigen Unterschriften zustande.
Mit Silikon gefälschte Fingerabdrücke
20 Jahre nach dem Fichenskandal in der Schweiz befürchten die Gegner des biometrischen Passes, die nicht grundsätzlich gegen das neue Dokument sind, die Auswüchse, die durch diese zentrale Datenbank entstehen könnten.
Unterstützt werden sie vom schweizerischen Datenschutzbeauftragten Hanspeter Thür. Während der Vernehmlassung hatte dieser erklärt, die Zentralisierung der Daten sei überrissen. Mehrere Beispiele aus dem Ausland hätten gezeigt, dass solche Datenbanken zu Zwecken missbraucht werden können, die nicht in deren Sinn seien.
Während der Abstimmungskampagne, die sehr auf den Datenschutz ausgerichtet war, haben mehrere Experten und Informatiker vor Fälschungsrisiken und Datenmissbrauch gewarnt.
Eine 2008 veröffentlichte Studie der Universität Lausanne und der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne zeigte auf, dass es möglich ist, mit Silikon gefälschte Fingerabdrücke zu generieren und mit Haar- und Bartwuchs beim Vergleich mit der digitalisierten Portrait-Foto Probleme zu schaffen.
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Referendum
Reisefreiheit
Gegenüber dieser Kritik des orwellschen «Big Brother» machen die Befürworter des biometrischen Passes geltend, die Reisefreiheit mit einem anerkannten und sichereren Pass zähle mehr als vage Befürchtungen über mögliche Missbräuche.
Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf, die in der Abstimmungskampagne stark präsent war, betonte mehrmals, dass der neue Pass besser vor Identitätsmissbrauch schütze. Eine zentrale Datenbank erlaube einen effizienteren Schutz der persönlichen Koordinaten, und dies erst noch kostengünstiger.
Risiko eines Überwachungsstaates gegen Reisefreiheit: Schweizerinnen und Schweizer sind geteilter Meinung. Laut der letzten repräsentativen Umfrage zur Abstimmung vom 17. Mai des Instituts gfs.bern ist lediglich eine knappe Minderheit von 49% für die Einführung des biometrischen Passes gegenüber 37% Gegnern sowie 14% Unschlüssigen.
Falls aus dem Urnengang ein Nein hervorgehen würde, hätte die Schweiz bis 1. März 2010 Zeit, um ein neues Projekt auf die Beine zu stellen. Danach hätte Bern noch 90 Tage Zeit, um mit der EU eine Sonderregelung zu vereinbaren, wie das Grossbritannien, Irland und Dänemark getan haben. Dies würde der Schweiz eine Kündigung der Schengen/Dublin-Abkommen ersparen.
Ja zur Komplementärmedizin wahrscheinlich
Die zweite Abstimmungsvorlage ist deutlich weniger umstritten. Die Komplementärmedizin ist sehr populär und wird wahrscheinlich in der Verfassung verankert werden, wie dies bei der letzten Umfrage 69% der Schweizerinnen und Schweizer wünschten.
Schon die beiden Parlamentskammern, National- und Ständerat, haben in diese Richtung vorgespurt. Sie hatten sich auf einen direkten, leicht abgeschwächten Gegenvorschlag des Bundesrates zur 2005 eingereichten Volksinitiative «Ja zur Komplementärmedizin» geeinigt. Darauf zogen die Initianten den Text ihres Volksbegehrens zurück.
Sie verzichteten aber nicht auf ihr ursprüngliches Ziel: Konkret sollen Homöopathie, Anthroposophische Medizin, Traditionelle Chinesische Medizin, Phytotherapie und Neuraltherapie wieder in den Leistungskatalog der Krankenkassen-Grundversicherung aufgenommen werden, falls diese Therapieformen von Schulmedizinern mit Zusatzausbildung praktiziert werden.
Gesundheitsminister Pascal Couchepin hatte diese 2005 aus der Grundversicherung ausgeschlossen.
Billiger oder teurer?
Die Anhänger der Komplementärmedizin sind der Ansicht, dass diese die klassische Schuldmedizin wirksam ergänze und erst noch billiger sei, was zu Kosteneinsparungen im Gesundheitswesen führen würde.
Ein Argument, das die Gegner der Komplementärmedizin, die sich vor allem aus den bürgerlichen Parteien rekrutieren, zurückweisen. Für sie würde ein Ja zu diesen alternativen medizinischen Behandlungsformen die Gesundheitskosten um eine halbe Milliarde Franken verteuern. Andere Schätzungen sprechen von einer jährlichen Verteuerung von 80 bis 100 Millionen Franken, wenn die fünf alternativen Behandlungen wieder eingeführt würden.
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Volksinitiative
Obwohl Gesundheitsminister Pascal Couchepin empfiehlt, den Verfassungsartikel «Zukunft mit Komplementärmedizin» anzunehmen, macht er keinen Hehl daraus, dass er den Gegenvorschlag zur zurückgezogenen Volksinitiative für unnötig hält.
Bei Annahme der Vorlage will es Couchepin aber ganz dem Parlament überlassen, was es daraus machen will. Wie die Komplementärmedizin dann in den Bereichen Krankenversicherung, Medikamente und Ausbildung zu berücksichtigen wäre, müsste der Gesetzgeber entscheiden. Die Diskussionen um die Komplementärmedizin sind also noch lange nicht abgeschlossen.
In der Schweiz sollen künftig ausschliesslich Pässe mit biometrischen Daten ausgestellt werden.
Das heisst: Der Reisepass soll neben den bisher üblichen Angaben auch einen elektronischen Speicher mit den Fingerabdrücken und dem Gesichtsbild enthalten.
Diese biometrischen Daten sollen in der zentralen Datenbank des Bundesamtes für Polizei gespeichert werden.
Zur Zeit speichern neun Mitgliedstaaten des Schengen-Raumes die biometrischen Koordinaten in einer zentralen Datenbank. Frankreich, Portugal und die Niederlande planen diesen Schritt auch.
Der Auslandschweizer-Rat (ASR) hat sich mit 43 gegen 16 Stimmen und 3 Enthaltungen für ein Ja zur Einführung des biometrischen Passes ausgesprochen.
Die Schweizer Bevölkerung hat über die obligatorische Krankenpflegeversicherung (Grundversicherung) Zugang zum Gesundheitswesen.
Dieses beruht im Wesentlichen auf den Erkenntnissen und Errungenschaften der modernen naturwissenschaftlich fundierten Medizin, der sogenannten Schulmedizin.
Deshalb sieht das Krankenversicherungsgesetz vor, dass medizinische Behandlungen und Heilmittel von der Grundversicherung nur übernommen werden, wenn nachgewiesen ist, dass sie wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sind.
Daneben bieten in der Schweiz zahlreiche Ärzte sowie nicht ärztliche Therapeuten vielfältige komplementärmedizinische Leistungen an.
Dieses Angebot wird von einem grossen Teil der Schweizer Bevölkerung
in Anspruch genommen.
Zurzeit sind in der Schweiz gegen 200 verschiedene komplementär-medizinische Methoden bekannt, die von gut 20’000 Therapeutinnen und Therapeuten und etwa 3000 Ärztinnen und Ärzten praktiziert werden.
(Übertragung aus dem Französischen: Jean-Michel Berthoud)
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