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Carla del Ponte: «… eine totale Niederlage»

Carla del Ponte bezeichnet Milosevics Tod als Niederlage. Keystone

Milosevics Tod, wenige Monate vor dem Prozess-Ende, ist für die Chefanklägerin des Haager Tribunals gegen Ex-Jugoslawien ein schwerer Schlag.

Für Carla del Ponte, die einen Selbstmord nicht ausschliesst, ist nach dem Tod des jugoslawischen Ex-Präsidenten die Verhaftung von Karadzic und Mladic noch dringender.

Der frühere jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic ist an einem Herzinfarkt gestorben. Das teilte das UNO-Tribunal in Den Haag am Sonntagabend nach der Obduktion des Leichnams mit.

Zwei verschiedene Herzleiden hätten zu dem Versagen des Organs geführt. Der gerichtsmedizinische Bericht sei vorläufig. Das Ergebnis einer Laboruntersuchung auf mögliche Giftstoffe im Körper Milosevics steht der Mitteilung zufolge noch aus. Anhänger Milosevics hatten den Verdacht geäussert, der Inhaftierte sei vergiftet worden.

Misstrauen

Die Leiche Milosevics war am Sonntag von niederländischen Gerichtsmedizinern im Beisein serbischer Pathologen obduziert worden. Anhänger Milosevics hatten das Gericht für dessen Tod verantwortlich und sogar Mordvorwürfe erhoben. Seine Familie forderte eine unabhängige Obduktion.

«Die Angehörigen trauen der Autopsie in Den Haag nicht und fordern, dass Ärzte aus Russland zugelassen werden», sagte der Bruder des Toten, Borislav Milosevic, der Agentur Interfax in Moskau. Noch ist offen, wann und wo der ehemalige Staatspräsident begraben wird.

Bestens medizinisch versorgt

Der Pflichtverteidiger des ehemaligen jugoslawischen Präsidenten, der britische Jurist Steven Kay, hatte zuvor einen Selbstmord eindeutig ausgeschlossen. Kay sagte am Samstag über seinen Mandanten: «Er sagte mir vor einigen Wochen: ‹Ich habe diese Sache nicht so lange ausgestanden, um mir irgendetwas anzutun›.»

Milosevic, der immer wieder wegen Herzbeschwerden und Blutdruckproblemen verhandlungsunfähig war, sei stets medizinisch gründlich untersucht und überwacht worden, sagte die Chefanklägerin des Tribunals, die Schweizerin Carla del Ponte, am Sonntag auf einer Pressekonferenz in Den Haag.

Karadzic und Mladic im Visier

«Der Tod Milosevics stellt für mich eine völlige Niederlage dar», sagte Del Ponte. Als Anklägerin habe sie den Prozess zu Ende führen wollen. Nun seien viele Jahre der Arbeit vergeblich gewesen. Der Tod des Angeklagten habe sie verärgert und wütend gemacht.

Die Schweizerin kündigte an, in anderen Verfahren zu den selben Anklagepunkten, die auch Milosevic zur Last gelegt wurden, den Nachweis zu führen, wie der Völkermord an den bosnischen Muslimen geschehen konnte. Erneut verlangte sie die Auslieferung der ehemaligen bosnischen Serbenführer Radovan Karadzic und Ratko Mladic an das Tribunal.

Fluchtgefahr

Das Gericht habe ihm vor Weihnachten den Wunsch verweigert, in Moskau medizinisch behandelt zu werden, denn die Behandlung sei auch in Den Haag möglich gewesen. Zudem habe man befürchtet, Milosevic könnte aus Moskau nicht mehr zurückkehren, so die Tessinerin weiter.

Milosevics Leichnam soll noch an diesem Montag seiner Familie übergeben werden, hiess es weiter. Der frühere Staatschef Jugoslawiens war am Samstag tot in seiner Zelle des UNO-Gefängnisses in Den Haag aufgefunden worden.

Hauptdrahtzieher

Der Serbe Milosevic gilt als der maßgebliche Anstifter der Kriege in den 1990er Jahren auf dem Balkan, bei denen zehntausende Menschen bei so genannten ethnischen Säuberungen ums Leben kamen. Die US-Regierung sprach sich für eine Fortsetzung der Arbeit des Tribunals aus.

Milosevic war seit Ende Juni 2001 in Haft. Seit Februar 2002 lief der Völkermordprozess gegen ihn wegen der Bürgerkriege nach dem Auseinanderfallen des Vielvölkerstaates Jugoslawiens. Es war beabsichtigt, die mündliche Verhandlung im Mai zu beenden. Das Gericht hatte kürzlich darauf hingewiesen, dass ihm eine lebenslange Haft droht.

swissinfo und Agenturen

Der ehemalige jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic ist in seiner Gefängniszelle in Den Haag tot aufgefunden worden.

Milosevic war 64 Jahre alt und litt an Herzproblemen und Bluthochdruck.

Er musste sich seit dem 12. Februar 2002 wegen Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen während des Bürgerkriegs verantworten, der Jugoslawien anfangs der 1990er-Jahre erschüttert hatte.

Das internationale Tribunal für Ex-Jugoslawien (TPIY) wurde gemäss der Resolution 827 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen eingerichtet.
Diese Resolution wurde am 25. Mai 1993 angenommen als Antwort auf die Bedrohung für den Frieden und die internationale Sicherheit durch die schweren Übertretungen des internationalen humanitären Rechts, die seit 1991 auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawiens begangen worden waren.
Der TPIY hat seinen Sitz im niederländischen Den Haag.

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