China: «Ein Land mit Tausend und einem Gesicht»
6 Monate nach dem Start haben die Berner Velofahrer rund 12'000 km zurückgelegt und den Westen von China erreicht. Die Strapazen der letzten Wochen hätten die Lust auf neue Eindrücke ein wenig gedämpft, schreiben sie in ihrem 7. Reisebericht.
China ist das einzige Land, in welches ich ohne konkrete Vorstellungen einreise. Vielleicht liegt dies daran, dass sich das Land stets so fern anfühlte, und ich dachte, für die Entwicklung solcher Vorstellungen bliebe noch genug Zeit.
Oder es liegt einfach daran, dass mir das Land stets als zu gross erschien, als dass es sich in konkrete Bilder packen liesse.
Dennoch: Ein paar lose Ideen sind vorhanden. So erwarte ich ein Land, das aufgrund seiner Grösse tausend Gesichter aufweisen muss. Diese Annahme muss ich jedoch bereits in Xinjiang, der ersten von uns besuchten Provinz, revidieren.
Selbst wenn ich versuchte, die tausend Gesichter des Landes zu zeichnen:Das Gesicht, welches uns das Land hier präsentiert, würde ich bestimmt vergessen. Das Gebiet hier erscheint uns über weite Strecken vollkommen «unchinesisch», weshalb zu den tausend Gesichtern mindestens eines dazugezählt werden müsste.
Mit der Sprache überfordert
Hier ist der Islam die vorherrschende Religion und besitzt einen hohen Stellenwert. Der Imam, der zum Gebet ruft, ist uns ein ständiger Begleiter. Es sind wieder vermehrt tief verschleierte Frauen zu sehen, ab und zu breitet ein Uigure draussen seinen Teppich aus und betet.
Äusserlich haben die Menschen nicht viel mit den Chinesen gemein, sie erinnern uns eher an Perser. Sehr verwirrend ist für uns auch die Sprache. Sie bedient sich einiger türkischer und russischer Wörter. Verwendet wird aber das persische Alphabet. Auch einige Begriffe sind persisch. In unseren Köpfen herrschte das totale Chaos.
Heute leben rund zehn Millionen Uiguren in der autonomen Provinz, die auch Uiguristan genannt wird und rund einen Sechstel der Fläche des Landes abdeckt. Einst machten die Uiguren über drei Viertel der Bevölkerung dieser Provinz aus, doch die Anzahl der Han-Chinesen steigt jährlich derart stark, dass die Uiguren heute bereits in der Minderheit sind.
Es wird behauptet, die Ansiedelung von Han-Chinesen in Xinjian sei eine Massnahme der Regierung, um den Revolutionsgeist der ethnischen Minderheit einzudämmen, wurde doch das Gebiet in der Vergangenheit immer wieder von Wellen politischer Unruhen erfasst.
Meine an einen Englisch sprechenden Uiguren gerichtete Frage, ob sich die beiden Bevölkerungsgruppen gut verstünden, ist eher rhetorischer Natur. Die Antwort fällt prompt und klar aus: «I don’t like Chinese», meint der Mann. Und er begründet seine Aussage damit, dass die Religion der Uiguren der Islam sei, wohingegen der Glaube der Chinesen einzig im Geld liege. Leider kommen wir mit den Uiguren zu wenig ins Gespräch, als dass sich diese Aussage erhärten liesse.
So fremd wie nie zuvor
Es mag an unserer Unkenntnis der Sprache liegen oder an einer gewissen Erschöpfung, die unser Interesse an Neuem etwas eindämmt: Der Kontakt zu den Uiguren ist spärlich, und wenn wir uns irgendwo niederlassen, spüren wir oft Skepsis. Die Männer stehen zwar jeweils um uns herum, wahren aber stets Distanz und sprechen uns nur selten direkt an. Kaum jemals haben wir uns auf der Reise so fremd gefühlt wie hier.
Einen Grossteil der Provinz Xinjiang nimmt die Taklamakanwüste ein. Über tausend Kilometer zieht sich die neu asphaltierte Strasse durch karges Niemandsland. Zweimal geraten wir in einen leichten Sandsturm, wobei uns der Wind glücklicherweise in den Rücken bläst.
Während des Fahrens begleitet uns auf der Strasse massenhaft Sand, der sich in langen Linien schlängelt. Wenn uns ein Lastwagen entgegendonnert, weichen die Sandschlangen aufgrund des Luftstosses aus, als würden sie vor der Blechmasse flüchten.
Obwohl um uns herum der Wind tobt, bewegen wir uns auf den Rädern völlig geschmeidig und ruhig, da wir genau das Tempo des Windes fahren. Der Moment wirkt beinahe magisch.
Vorfreude keimt auf
Die Gegend um Taklamaka hat so manches zu bieten. Meist erstrecken sich zu beiden Seiten von uns unfruchtbare Geröllebenen, immer wieder tauchen aber riesige Sanddünen auf oder dickstämmige Bäume, deren Blätter in grellem Gelb leuchten. Die Fahrt gestaltet sich zäher, weil uns der Wind nun die meiste Zeit entgegen bläst.
Den letzten Streckenabschnitt mussten wir per Bus zurücklegen, um rechtzeitig nach Xining zu gelangen, wo wir unsere Visa dringend verlängern lassen mussten. In Xining, dem Tor zum besiedelten Flachland, regenerieren wir uns von den vielen Radkilometern und lassen die Vorfreude, weitere Gesichter Chinas kennenzulernen, in uns aufkeimen.
Aus Liebe zur Freiheit, zur Ökologie und zur sportlichen Betätigung entschied sich Julian Zahnd für eine Reise mit dem Velo von Bern nach Peking.
In Samsun am Schwarzen Meer ist sein Freund Samuel Anrig dazu gestossen. Er begleitet Julian für den Rest der Reise.
Julian war am 27.04.2011 in Bern gestartet. Die Route führt über Italien in die Länder des Balkans, die Türkei, Iran, Turkmenistan, Kirgistan.
Seit mehreren Tagen sind sie in China unterwegs Richtung Peking.
Die Route – insgesamt 14’000 km – verläuft über weite Strecken der ehemaligen Seidenstrasse entlang.
Die Abenteurer wollen pro Tag rund 100 km zurücklegen, um ihr Ziel im November zu erreichen.
Der Berner Velo-Abenteurer ist 26 Jahre alt. Im Herbst 2010 hat er sein Studium in Politologie und Geschichte abgeschlossen.
Nebst Musik und Sport ist das Reisen seine Leidenschaft, vor allem per Fahrrad.
Der Berner hat in den letzten Jahren bereits die Strecken Zagreb-Tirana sowie Granada-Bern per Rad zurückgelegt.
Die gegenwärtige China-Radreise ist für ihn die mit Abstand längste Tour.
Samuel Anrig ist 27 Jahre alt und hat soeben sein Geografiestudium an der Universitaet Bern abgeschlossen.
Der Reiseliebhaber begleitet Julian Zahnd auf der Strecke Samsun (Türkei) – Peking. Vor wenigen Jahren sind die beiden bereits von Zagreb nach Tirana geradelt.
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