Chinas Schlafkultur
Chinesen haben den Ruf, ausgesprochen fleissig zu sein. Das Klischee mag zum Teil zutreffen, in einem Punkt schiesst es aber weit an der Realität vorbei. Denn punkto Schlaf kultivieren die Chinesen eine Entspanntheit, von der wir Schweizer nur träumen können.
Jeden Mittag kurz nach dem Essen vollzieht sich in meinem Büro ein seltsames Spektakel: Der Trommelwirbel von rund 300 Fingern auf 30 Computertastaturen verstummt und macht zunehmend andächtiger Stille Platz. Die Zeit ist gekommen für 午觉 (wujiao), die in Chinas Kultur tief verwurzelte Siesta.
Der Mittagsschlaf ist in China eine durchaus ernste Sache, der jeden Tag gehuldigt wird. Schon von klein auf wurden meine Kolleginnen und Kollegen von ihren Eltern auf die grosse Bedeutung dieser Tradition für Gesundheit und Wohlbefinden hingewiesen und entsprechend zu widerstandsfähigen Schläfern erzogen.
Die Länge des Mittagsschlafs wird allein vom eigenen Körper bestimmt. Meine Bürokollegen und auch die Professoren schlafen immer wieder mal mehr als eine Stunde in unbequemen Posen an ihren Pulten.
Störungen des Schlafs sind ausgesprochen unerwünscht und auch die wichtigsten Geschäfte müssen in dieser Zeit sprichwörtlich ruhen. In meinem Büro übernehme ich in dieser Zeit den Telefondienst und erkläre den Anrufern, dass die gesuchten Personen gerade «in einem Meeting» seien.
Der omnipräsente Mittagsschlaf
Schlafende Leute sind auch im öffentlichen Raum allgegenwärtig. Besonders die Leute am Empfang von grösseren Gebäuden und das hierzulande weitverbreitete Sicherheitspersonal gehen ihrer Arbeit nicht immer in wachem Zustand nach.
An Seminaren und Konferenzen schläft oft ziemlich schnell das halbe Publikum weg, und auch bei kleineren Meetings nickt immer wieder mal jemand kurzfristig ein.
Sogar bei den Interviews, die ich für mein Forschungsprojekt führe, sind mir schon Leute eingeschlafen. Bisher allerdings zum Glück nur die fast immer anwesenden Assistenten der Interviewpartner.
Bemerkenswert ist die grosse Akzeptanz, die Chinesen ihren schlafenden Landsleuten entgegenbringen. Schlafen scheint in keiner Lebenssituation wirklich unhöflich zu sein, und den Schlafenden wird höchster Respekt gezollt.
Gleichzeitig scheinen die Leute hierzulande die Gabe zu haben, in jeder erdenklichen Situation und Körperhaltung schlafen zu können. Nicht selten sieht man friedlich dösende Leute am Rand von tosenden Autostrassen oder mitten in ohrenbetäubenden und heillos überfüllten Supermärkten.
Der Schlaftourismus
Kürzlich habe ich bei meinen Kollegen nachgefragt, was sie davon hielten, dass sogar das Sicherheitspersonal in der U-Bahn, das sämtliche Taschen mit Röntgengeräten auf versteckte Bomben durchsucht, mitunter vor dem Kontrollbildschirm schläft. Die Frage stiess auf komplettes Unverständnis.
Das Recht auf einen Mittagsschlaf ist angeblich in der Chinesischen Verfassung verankert und steht in der Realität offensichtlich sogar über dem (sonst so gründlich durchgesetzten) Schutz der öffentlichen Sicherheit.
Legendär ist inzwischen auch der Schlaftourismus in den chinesischen IKEA-Läden: Da Wohnungen und Büros in China im Schnitt eher eng und unwirtlich sind, bietet es sich an, die Mittagspause in gut möblierte IKEA-Zimmer mit weichen Betten und Sofas zu verlegen.
Der Möbelhändler hat bisher noch keine griffige Lösung für das Problem gefunden, was dazu führt, dass die hiesigen IKEAs besonders am frühen Nachmittag eine aussergewöhnlich geruhsame Atmosphäre verbreiten.
Was, wenn China die Siesta abschafft?
Ich selber habe die Gewohnheit der Siesta hingegen nicht übernehmen können. Meine Kollegen fragen mich regelmässig mit ernst gemeintem Erstaunen, warum wir Ausländer am Nachmittag nicht schlafen würden.
Ich musste selbst lange um eine Erklärung ringen, denn in der Schweiz erliege auch ich öfters dem frühnachmittäglichen Insulinüberschuss. Hier in China bleibt diese Müdigkeitsphase hingegen fast komplett aus. Ich erkläre das jeweils damit, dass das Essen in China einfach weniger schwer sei als in der Schweiz und ich darum nicht müde werde. Diese Erklärung stösst überall auf wohlwollende Zustimmung.
Napoleon soll gesagt haben: «Wenn China erwacht, erzittert die Welt.» Bezogen auf die chinesische Siesta erhält dieser Ausspruch zusätzliches Gewicht: Den bisherigen Aufschwung hat China nämlich gewissermassen im Halbschlaf geschafft.
In letzter Zeit mehren sich allerdings Berichte in den Medien, die aufzeigen, dass die Siesta vor allem in grösseren und ausländischen Firmen zunehmend abgeschafft wird. Es stellt sich also die Frage, was mit der Welt passieren wird, wenn China dereinst die Mittagssiesta aufgibt und wirklich erwacht…
Immer häufiger reisen auch junge Leute für längere Zeit ins Ausland, sei das zum Studieren, Forschen, für ein Stage oder zum Arbeiten.
Zu ihnen gehört auch Christian Binz, der gegenwärtig in Beijing forscht.
Bis im Sommer 2011 berichtet er für swissinfo.ch über seine Erfahrungen und Beobachtungen in Beijing.
Christian Binz ist 27 Jahre alt. Er hat an der Universität Bern Geographie mit den Nebenfächern Volkswirtschaft, Philosophie und Chinesisch studiert.
Für seine Masterarbeit untersuchte er das chinesische Innovationssystem für dezentrale Wasserrecycling-Technologie.
Aus dieser Arbeit entwickelte sich seine Doktorarbeit, ein Kooperationsprojekt zwischen der Eawag (Wasserforschungsinstitut an der ETH) und der Chinesischen Akademie der Wissenschaften.
Seit September 2010 lebt er in Peking und arbeitet für sein Projekt, das untersucht, ob China in seinem urbanen Wassermanagement zu nachhaltigeren Lösungen finden könnte.
Christian Binz war insgesamt schon fünfmal in China und hat weite Teile des Landes bereist.
Nebst Reisen ist sein grösstes Hobby die Musik, insbesondere seine Band Karsumpu, wo er Mundharmonika, Piano und diverse «Binztrumente» spielt (www.karsumpu.ch).
Nebenbei ist er begeisterter Filmer, Sportler und Hochseesegler.
Nebst seiner Muttersprache Deutsch spricht er Englisch, Italienisch, Französisch und Chinesisch.
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