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Crack-Schock in Schweizer Städten

Nachtaufnahme Restlicht
"Crack City Steinhausen" steht bei Eingang zum Churer Stadtgarten. KEYSTONE/© KEYSTONE / Gian Ehrenzeller

Billiges konzentriertes Kokain überschwemmt die Schweiz. Ein Teil davon wird als Crack verkauft. Offene Drogenszenen sind entstanden. Besonders betroffen ist Genf.

Dreissig Jahre nach der Schliessung der offenen Heroinszenen am Platzspitz und am Letten werden in Zürich wieder in aller Öffentlichkeit harte Drogen konsumiert. «Solche Szenen sind in allen grossen Schweizer Städten zu beobachten, aber auch in Biel, Vevey, Solothurn, Brugg und sogar Chur», sagt Frank Zobel, stellvertretender Direktor von Sucht Schweiz.

In Chur (GR) besetzen Drogenkonsumenten einen Park. Ebenso im Zentrum von Zürich: die Bäckeranlage. In Genf bevölkern Crack-Süchtige das Quartier rund um den Bahnhof Cornavin. Diesmal steht nicht Heroin, sondern Kokain im Mittelpunkt der Krise.

Das weisse Pulver überschwemmt Europa und verdrängt das Heroin; es wird zu Dumpingpreisen angeboten und sein Reinheitsgrad beträgt bisweilen über 70 Prozent.

«So etwas hat es noch nie gegeben», sagt Frank Zobel, der einen Bericht über die Crack-Schwemme in Genf verfasst hat. Crack wird aus Kokain hergestellt und in einer Glaspfeife geraucht. Seine Wirkung ist jäh. Sobald die unterdrückten Gefühle wieder zurückkehren, beginnt das Reissen nach dem nächsten Kick.

Die Droge wird in der Schweiz schon seit Jahren konsumiert. Doch ihre Verfügbarkeit ist rasant gestiegen. «Das Angebot hat sich innert eines Jahres verdoppelt», sagt Nicolas Dietrich, Beauftragter für Suchtfragen des Kantons Freiburg.

Konsumfertiges Crack

Aussergewöhnlich ist die explosionsartige Entwicklung in Genf. Nicht zuletzt, weil hier das Crack konsumfertig verkauft wird, und zwar von französischsprachigen Dealern afrikanischer Herkunft, die via Frankreich in die Schweiz gekommen sind. Die Dealer haben inzwischen einen Markt etabliert, der auf dem Verkauf kleiner Mengen zu tiefen Preisen basiert.

Zuvor kauften die Crack-Konsumenten das Kokain auf der Strasse und das Backpulver in der Migros, um dann das Crack zu Hause zuzubereiten. Das Discount-Crack hat alles beschleunigt. Täglich versammeln sich Dutzende rund um Quai 9, den Drogenkonsumraum neben dem Bahnhof Cornavin.

«Ein Drittel stammt aus Genf, ein Drittel aus Frankreich und ein Drittel hat einen Migrationshintergrund», schätzt Camille Robert, Co-Leiterin der Westschweizer Vereinigung für Suchtforschung.

Im Juni schloss «Première ligne», der Verein, der Quai 9 betreibt, für eine Woche seine Türen. Der Grund: aggressives Verhalten von Crack-Süchtigen und Schlägereien vor dem Lokal.

«Mitarbeitende erlebten Streitereien im Lokal», erzählt Thomas Herquel, Direktor des Vereins. Seither ist der «Raucherraum» für die Crack-Rauchenden nicht mehr geöffnet, mit Ausnahme derjenigen, die im Quai 9 auf einem der zwölf Feldbetten schlafen.

Die Schliessung sorgte für einen Schock, gibt Pascal Dupont zu, Leiter von Entracte, einem Genfer Tageszentrum für Drogenabhängige. Die rasante Zunahme des Crack-Konsums trifft auch die spezialisierten Einrichtungen.

Thomas Herquel vom Verein «Première ligne»
Thomas Herquel vom Verein «Première ligne» in seiner recht klinisch anmutenden Wirkungsstätte, dem Quai 9 in Genf. Die Süchtigen verhielten sich zuweilen aggressiv, sagt Herquel. Nils Ackermann/Lundi13

«Crack ist wie eine Reihe von Explosionen, die schnell aufeinander folgen. Für die Süchtigen, die oft aus einem von Verletzlichkeit und Depression geprägten Umfeld stammen, reduziert sich alles auf den unmittelbaren Moment; jede zeitliche Perspektive verschwindet», sagt Gérald Thévoz, Suchtexperte und Berater im psychosozialen Bereich.

Wer Crack konsumiere, esse, trinke und schlafe nicht mehr. «Jene, die unter Drogeneinfluss stehen, nehmen ihr soziales Umfeld nicht mehr wahr», sagt Thévoz. Ihr Zustand macht den Menschen Angst, und die Bindungen, die sie zu ihrer Umgebung haben, lösen sich.

«Mein oberstes Ziel ist, dass ein Drogenkonsument, der einmal zu Entracte kommt, auch wiederkommt», betont Pascal Dupont. Er erlebt, dass langjährige Stammgäste den Kontakt abbrechen. Manchmal braucht es einen Spitalaufenthalt, damit ein Ausweg sichtbar wird.

Medikamente in Freiburg

Angesichts der Krise hat der Genfer Staatsrat ein Programm mit einem Budget von sechs Millionen Franken aufgegleist, das unter anderem mehr Polizeipräsenz vorsieht. Das Lokal Quai 9 wird vergrössert, das Personal aufgestockt. Den Konsumenten werden zusätzliche Schlafplätze zur Verfügung gestellt.

Die Idee dahinter ist, den Abhängigen, von denen ein Teil keinen Anspruch auf Sozialhilfe hat, eine Rückzugsmöglichkeit zu bieten. Dies gilt für Konsumenten aus Frankreich ebenso wie für Obdachlose aus Genf, darunter auch Frauen und Männer mit Migrationshintergrund.

In anderen Teilen der Schweiz wird Crack von den Konsumenten gekocht und zum Teil weiterverkauft. «Kokain ist allerorts im Überfluss verfügbar», sagt Frank Zobel. «Die Szenen variieren je nach sozialer und geografischer Zusammensetzung», ergänzt Nicolas Cloux, Direktor der Stiftung für Drogenhilfe Le Tremplin in Freiburg. Im Kanton Freiburg nehmen jene, die psychotrope Substanzen konsumieren, mehr Medikamente zu sich als anderswo in der Schweiz.

«Wenn das Fertig-Crack bei uns ankommt, werden wir von den Erfahrungen in Genf profitieren», meint Nicolas Dietrich, kantonaler Beauftragter für Suchtfragen in Freiburg. Sein Kanton erlebte bereits die Anfänge der Droge und hat deshalb eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die sich mit Crack befasst.

Soziale Unsicherheit als Ursache

Die rasante Verbreitung von Crack in der Schweiz hängt wohl auch mit der grossen Unsicherheit zusammen. «Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der Schweiz verschlechtern sich zusehends», sagt Hervé Durgnat, Mitglied einer kantonalen Expertenkommission für Suchtfragen im Kanton Waadt.

Crack wird geraucht (Symbolbild).
Crack wird geraucht (Symbolbild). KEYSTONE

Dass in der Schweiz in aller Öffentlichkeit Crack konsumiert wird, hat die Fachleute überrascht. «Wir dachten, dass es in einem reichen Land wie der Schweiz keine offenen Crack-Szenen geben würde», gibt der Experte zu. Ein Teil der Bevölkerung, der bereits Kontakt mit dieser Droge hatte oder in einer Substitutionsbehandlung ist, wird nun in den Crack-Konsum hineingezogen.

«Wir nehmen Menschen auf, die möglicherweise kurz vor der Rente stehen, oft krank sind und manchmal in Hotels leben. Was sind ihre Perspektiven?», fragt Pascal Dupont. In Genf bringen die Sozialarbeiter von Quai 9 erschöpften Konsumenten, die sie auf der Strasse gefunden haben, Wasserflaschen und Essen.

Notunterkünfte bieten Verschnauf­pausen, und Einrichtungen nehmen so gut es geht Crack-Konsumenten auf, aber die üblichen Schwellenwerte – z. B. die Mindestaufenthaltsdauer – sind für diese instabilen Menschen manchmal zu hoch.

«Die Politik will vermeiden, dass durch eine kontrollierte Abgabe von Drogen neue Probleme entstehen, aber man muss auch über medizinische und psychosoziale Massnahmen nachdenken, um diese Menschen zu begleiten», betont Gérald Thévoz.

Der Spezialist spricht von einer Behandlung mit ärztlich verschriebenem Heroin. Und die Behörden in Zürich, Bern und Lausanne prüfen die Möglichkeit eines regulierten Verkaufs von Kokain.

Dieser Text erschien zuerst in der Schweizer Revue.Externer Link

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