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Das jüngste Gericht des Bundes urteilt im Tessin

Das Business Center von Mario Botta in Bellinzona, Standort des Bundesstrafgerichts bis 2009. EJPD

Der Bund schlägt gegen organisiertes Verbrechen, Wirtschaftskriminalität und Terrorismus Pflöcke ein: In Bellinzona hat das neue Bundesstrafgericht den Betrieb aufgenommen.

Ob damit die Abläufe nun einfacher oder komplizierter werden, darüber sind sich Experten uneinig.

Aarau oder Bellinzona? Die Standortfrage für das neue Bundesstrafgericht hatte im Sommer 2002 im Schweizer Parlament hohe politische Wellen geschlagen. Effizienz, einfachere Prozessabläufe sowie geringere Kosten sprachen für Aarau.

Doch schliesslich setzten sich, auch gegen den Willen des Bundesrates, die Befürworter einer Dezentralisierung durch. Eine Mehrheit von National- und Ständerat wollte mit diesem Entscheid das Tessin wieder stärker an den Bundesstaat binden.

Am 1. April hat das Bundesstrafgericht in Bellinzona nun seine juristische Arbeit in Angriff genommen. Als provisorischer Sitz dient ein repräsentativer Bau, den der Tessiner Star-Architekt Mario Botta einst für die Swisscom gebaut hatte.

«Das neue Gericht umfasst vorerst 11 Richter, davon 3 Frauen», sagt Mascia Gregori, Generalsekretärin des neuen Gerichts, gegenüber swissinfo.
Der definitive Sitz, ein Neubau für rund 30 Mio. Franken, soll 2009 bezugsbereit sein. Der Anteil des Kantons Tessin liegt bei 10 Mio. Franken. Der neue Sitz wird dereinst rund 90 Beschäftigten, davon rund 35 Richter und Richterinnen, Platz bieten.

Grosses Interesse

«Wir hatten viele Bewerbungen aus dem ganzen Land, vor allem aber von Personen aus der deutschen und der französischen Schweiz», so Gregori. Damit widerlegt sie in der Parlamentsdebatte geäusserte Befürchtungen, dass Arbeitsplätze am neuen Gericht im Tessin weniger gefragt sein würden. «Die meisten Mitarbeiter sind Wochenaufenthalter, die am Wochenende in ihre Heimatkantone zurückkehren.»

Hans Müller, Generalsekretär des Personalverbandes des Bundes, bestätigt: «Die Besetzungen verlaufen nach Plan, ich erhielt weder positive noch negative Rückmeldungen.» Dies, obwohl der Ortszuschlag für Bundesangestellte für Bellinzona pro Jahr 2351 Franken beträgt, knapp halb so viel wie in Bern.

Scheitern vorausgesagt

Die Kritik am Tessiner Standort aus den Parlaments-Debatten ist nicht verstummt. Der sozialdemokratische Freiburger Nationalrat Erwin Jutzet hatte sich bereits in der Parlamentsdebatte dezidiert zugunsten Aaraus ausgesprochen. Den Zuschlag für Bellinzona findet er nach wie vor «sachlich einen schlechten Entscheid».

«Wird in Zürich oder Genf jemand wegen Verdachts auf organisierte Kriminalität oder Geldwäscherei verhaftet, muss der Angeschuldigte neu dem Richter in Bellinzona vorgeführt werden», so Jutzet, selber Anwalt und ehemaliger Ersatz-Bundesrichter. Er ist zudem Vizepräsident der nationalrätlichen Gerichtskommission.

Auch Staatsanwalt, Untersuchungsrichter, Anwälte, Zeugen und Aktenberge müssten ins Tessin «verfrachtet» werden. Jutzet befürchtet deshalb eine Komplizierung der Abläufe. «In ein paar Jahren wird man zur Einsicht kommen, dass es so nicht geht.»

Klarere Aufgabenverteilung

Der Genfer Staatsanwalt Daniel Zappelli sieht das anders. «Die neue Instanz in Bellinzona bringt eine Klärung der Aufgabenverteilung zwischen Bund und Kantonen», sagte er. Sei ein Fall auf den Kanton beschränkt, werde er dort verfolgt. «Hat er aber eine Dimension, die den Bund tangiert, sind es die Organe des Bundes, die für den Fall von Anfang bis zum Ende verantwortlich sind.»

Zappelli räumt ein, dass die Kantone mit der Neuverteilung der Kompetenzen die Hohheit über bestimmte Fälle verlieren. «Würden die Untersuchungen über die Abacha-Gelder oder die Affäre Borodin heute eröffnet, wäre es das Bundesstrafgericht in Bellinzona, das die Ermittlungen führt.»

Als Ausnahmen bleiben jene laufenden Verfahren, welche die Kantone bereits vor der Justizreform eröffnet haben: Diese können von den kantonalen Strafverfolgungsbehörden zu Ende gebracht werden. Das ist beispielsweise bei den Abacha-Geldern der Fall, weil Zappellis Vorgänger Bernard Bertossa den Fall bereits 1999 eröffnet hatte.

Konzentration und Koordination

Mit dem neuen Strafgericht will der Bund Schwerstkriminalität wie organisiertes Verbrechen, Terrorismus, Geldwäscherei und Korruption effizienter bekämpfen. Grundlage war die Justizreform, die 2002 in Kraft trat. Damit liegt die Verfahrensführung bei den erwähnten Delikten zwingend beim Bund.

Neue Aufgaben übernimmt der Bund auch in Fällen internationaler oder interkantonaler Wirtschaftskriminalität. Auch hier kann der Bund Verfahren selbständig eröffnen oder auf Ersuchen der Kantone übernehmen.

Starker Ausbau

Wegen der Übernahme neuer Kompetenzen müssen die Bundesanwaltschaft (BA), das Bundesamt für Polizei sowie das Eidgenössische Untersuchungsrichteramt personell stark verstärkt werden. 2001 hatte es bei der Bundesanwaltschaft und der Bundeskriminalpolizei insgesamt 125 Stellen gegeben, bis Ende 2004 sollen rund 400 neue dazukommen.

Die Ermittlungsorgane des Bundes rekrutierten ihre neuen Mitarbeiter vornehmlich bei den Kantonspolizeien. Dieser Aderlass hatte in den Kantonen zu Kritik geführt.

Das neue ordentliche Strafgericht des Bundes in Bellinzona bringt aber auch die langersehnte Entlastung des Bundesgerichts in Lausanne, wie Bundesrichter Hans Wiprächtiger sagt. «Dieses kann sich nun besser seiner eigentlichen Aufgabe, der Überprüfung der Rechtsanwendung in der Schweiz, annehmen.»

swissinfo, Renat Künzi und Alexandra Richard

Präsident des neuen Bundesstrafgerichts ist der Zuger Alex Staub. Er rechnet mir mehr Fällen, als bisher in Lausanne behandelt wurden, weil jetzt mehr Kompetenzen beim Bund liegen.
2003 behandelte die Anklagekammer des Bundesgerichts in Lausanne 117 Fälle.
Bellinzona ordnet auch Telefonüberwachungen an (ca. 500 Fälle pro Jahr).
Bekanntester Richter in Bellinzona ist Bernard Bertossa, der ehemalige Genfer Staatsanwalt.

Das Bundesstrafgericht in Bellinzona ersetzt die bisherige Anklagekammer des Bundesgerichts in Lausanne.

Die Standortfrage hatte im Schweizer Parlament einen heissen Schlagabtausch ausgelöst, bei dem Aarau unterlag.

Bellinzona ist die Erstinstanz, die vor allem aufwändige Beweis-Aufnahmen in Fällen von Terrorismusverdacht, Organisierter Kriminalität und Wirtschaftsverbrechen (Geldwäscherei) durchführt.

Weitere Aufgaben sind die Durchführung der Strafprozesse des Bundes (Beispiele: Affären Jeanmaire und Nyffenegger) sowie die Anordnung der Telefonüberwachungen.

Kritiker befürchten aber kompliziertere Abläufen, weil die Verfahren im Tessin stattfinden.

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