Das Schweizer Dorf Lauterbrunnen erwägt eine Eintrittsgebühr für Tourist:innen
Von Machu Picchu bis Venedig: Der Übertourismus ist ein globales Problem mit komplexen Ursachen. Auch Lauterbrunnen mit seinen Instagram-gerechten Wasserfällen ist betroffen. Das Dorf überlegt nun, Eintritt zu verlangen. Die Lösung hat aber einen Haken.
Lauterbrunnen im Berner Oberland ist ein Ort wie aus dem Bilderbuch. Eingebettet in ein üppig bewachsenes Tal, haben die hohen Felsen, die schneebedeckten Gipfel, der 300 Meter hohe Staubbachfall und der alpine Charme den Ort zu einem beliebten Reiseziel gemacht, insbesondere dank der sozialen Medien.
Die Kehrseite der Medaille ist, dass das Dorf mit seinen rund 2400 Einwohner:innen unter verstopften Strassen, Parkplätzen und öffentlichen Verkehrsmitteln leidet. Die Strassen sind mit Müll übersät und die Mieten steigen. «Wir fühlen uns wie Angestellte in einem Vergnügungspark“, sagte Dorfpfarrer Markus Tschanz letztes Jahr gegenüber Schweizer Radio SRF.
Die lokalen Behörden haben genug von der Tourist:innenschar und deshalb eine Arbeitsgruppe eingesetzt. Sie soll nach Möglichkeiten suchen, den Übertourismus einzudämmen. Eine Massnahme, welche Lauterbrunnen in Erwägung zieht, ist es, Venedig zu kopieren. So prüfe man, von durchreisenden Gästen 5 bis 10 CHF pro Tag zu verlangen, berichtete Externer Linkkürzlich die Berner Zeitung.
Venedig hat im vergangenen Monat als erste Stadt der Welt ein Bezahlsystem für Tourist:innen eingeführt. So will man die Menschenmassen, die sich während der Hochsaison in den Kanälen drängen, reduzieren.
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Lauterbrunnen könnte die Tagestickets über eine App vertreiben, erklärte Gemeindepräsident Karl Näpflin. Wer mit dem Auto für einen Tag nach Lauterbrunnen kommt, müsste den Eintritt bezahlen. «Ausgenommen sind Gäste, die ein Angebot wie ein Hotel oder einen Ausflug gebucht haben oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln anreisen“, sagte er.
Im Dorf würden stichprobenartig Kontrollen durchgeführt, um sicherzustellen, dass die Leute auch tatsächlich zahlen. Eine solch drastische Massnahme werde aber nicht diesen Sommer eingeführt, da noch Abklärungen nötig seien, so die Zeitung.
Schwierige Umsetzung
Viele Tourismusdestinationen beobachten Venedig, um zu sehen, ob und wie dieses System funktioniert, sagt Fabian Weber, Tourismusforscher an der Hochschule Luzern gegenüber SWI swissinfo.ch.
Es ist zwar «verständlich“, dass eine solche Lösung in Betracht gezogen wird. Aber Weber ist sich nicht sicher, wie einfach diese in der Umsetzung ist.
«Es ist sehr schwierig, ein solches Eintrittsgeld in einem öffentlichen Raum wie einem Dorf oder einem Tal einzuführen. Wir haben nicht viel Erfahrung und wissen nicht, ob es funktioniert», sagte er.
Seit dem Ende der Covid-19-Pandemie machen immer mehr Menschen Urlaub in der Schweiz. Im vergangenen Jahr hat die Schweiz mit 41,8 Millionen Übernachtungen einen Rekord an Hotelgästen verzeichnet. Und auch in diesem Jahr hält die Entwicklung an, vor allem durch ausländische Besucher:innen.
Besonders stark war der letzte Sommer mit zahlreichen Urlauber:innern aus den USA, China, Südkorea, Indien und dem Vereinigten Königreich.
Während fast alle Tourismusregionen im letzten Sommer einen Anstieg der Übernachtungen verzeichneten, wies die Region Berner Oberland mit ihren berühmten Gipfeln und Seen den grössten Zuwachs auf (+434’000 / +13,2%).
„Ich gehe davon aus, dass solche Gebühren keine grossen Auswirkungen auf die Zahl der Touristen haben würde. Aber sie würde zumindest Geld einbringen. Das wiederum kann für Massnahmen zur besseren Steuerung der Gästeströme oder zur Deckung von Schäden verwendet werden. Die meisten bisherigen Tourismusabgaben wirken sich nicht wirklich dämpfend auf die Zahlen aus. Aber sie geben einen gewissen Spielraum bei der Steuerung der touristischen Entwicklung», so Weber.
Andere Tourismus-Hotspots in der Schweiz
Lauterbrunnen ist nicht die einzige Schweizer Region, die versucht, die Tourist:innenströme zu kontrollieren.
Das Seedorf Iseltwald im Berner Oberland wurde vor ein paar Jahren durch einen unerwarteten Zustrom von Fans der Netflix-Serie Crash Landing on You zum Stillstand gebracht.
Das Schweizer Dorf, das in der beliebten südkoreanischen Serie vorkommt, beschloss, von den Besuchenden eine Gebühr zu erheben: 5 Franken für Selfies am SeeExterner Link. Ausserdem führt es Verkehrskontrollen durch, um eine Überflutung des Dorfes mit Menschen zu verhindern.
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Auch der Kanton Appenzell Innerrhoden in der Nordostschweiz mit seinen Wanderwegen und spektakulären Orten wie dem Gästehaus Äscher-Wildkirchli im Alpstein kämpft mit diesem Problem. Es hatte durch das Titelbild eines National Geographic-Buches 2018 weltweite Bekanntheit erlangt.
In der Südschweiz haben das Tessiner Verzasca-Tal und sein türkisfarbenes Wasser einen explosionsartigen Anstieg der Besuchendenzahlen erlebtExterner Link. Vor allem aufgrund seiner Popularität auf Instagram.
«Verzasca ist nach wie vor sehr beliebt. Vor allem an den Wochenenden, wenn Tagestouristen aus der Lombardei anreisen», sagt der Bürgermeister von Verzasca, Ivo Bordoli.
Nach dem viralen Video „Die Malediven von Mailand“ im Jahr 2017 führten die lokalen Behörden kostenpflichtige Parkplätze ein. Zuvor waren die Plätze kostenlos. Jetzt prüfen sie die Möglichkeit einer Zufahrtsquote.
In den letzten Jahren hatte auch die Zentralschweizer Stadt Luzern mit einer grossen Zahl von Reisebusgruppen zu kämpfen, insbesondere mit Touristen aus China.
Während der Pandemie brach die Zahl der ausländischen Urlauber:innen ein, aber die Individualreisenden kehren wieder zurück, und es ist wahrscheinlich, dass auch die grossen Reisebusgruppen zurückkommen werden.
«Ich rechne damit, dass die Situation wieder unüberschaubar wird, wenn wir erneut mit der Bewältigung der grossen Reisebusse zu kämpfen haben“, sagt Jürg Stettler, Leiter des Instituts für Tourismus der Hochschule Luzern. «Die Zahl der Gruppenreisenden wird mit Sicherheit zunehmen. Es ist nur die Frage, wie schnell.“
Weltweites Tourismuswachstum erwartet
In diesem Jahr wird sich der weltweite Tourismus voraussichtlich vollständig von der Covid-19-Pandemie erholen.
Die Welttourismusorganisation der Vereinten Nationen geht davon aus, dass 2024 weltweit ein Rekordjahr wird. Die negativen Folgen des Übertourismus dürften daher ein heisses Diskussionsthema bleiben.
Die Gesamtzahl der touristischen Bewegungen weltweitkehrt gemäss der Welttourismusorganisation der Vereinten Nationen im 2024 auf das Niveau vor der Corona-Pandemie zurück:
Die Ursachen für den globalen Übertourismus sind komplex. Dazu gehören das enorme Wachstum der Mittelschichten in Indien und China, billige Flugtickets und die Verbreitung von Online-Buchungsplattformen.
Doch wie Sina Hardaker, Wirtschaftsgeographin an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, gegenüber dem Swiss Horizons MagazineExterner Link erklärte, „erhöhen Plattformen wie Airbnb nicht nur die Unterkunftskapazität, sondern verändern auch die Morphologie einer Stadt. Mit anderen Worten, sie verändern die Art und Weise, wie sich eine Stadt entwickelt und strukturiert ist“.
Der Aufstieg der sozialen Medien hat eine Generation hervorgebracht, die davon besessen ist, Selfies vor den grossen Kunstwerken, architektonischen Wahrzeichen oder Schauplätzen der Natur weltweit zu machen.
«Lauterbrunnen hat definitiv ein Übertourismusproblem. Aber das liegt nicht an ihrem eigenen Erfolg, sondern an ihrem Wasserfall, der ‹instagrammable› ist», so Stettler. Das Tal hat bereits eine hohe Anzahl von Besuchenden, die die nahe gelegenen Alpen und Gletscher erleben wollen. «Jetzt kommt noch dieser ‚Wasserfall-Szenerie-Fototourismus‘ hinzu“, kommentiert er.
Besteht die Gefahr, dass die Schweizer Alpen angesichts der langsamen Erwärmung der Erde von noch mehr Tourist:innen und auf der Suche nach kühleren Destinationen überschwemmt werden?
«Wahrscheinlich schon», sagt Stettler: «Die Zahl der Besucher im Frühling, Sommer und Herbst wird aufgrund der Auswirkungen des Klimawandels zunehmen. Aber im Winter werden die Zahlen wegen der Schneeverhältnisse zurückgehen.»
Bestimmte Hotspots, die im Sommer bereits mit Übertourismus zu kämpfen haben, wie zum Beispiel die Jungfrau- und Titlis-Region, Zermatt und Luzern, würden wohl unter Druck geraten.
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