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Das Velo, der König von Amsterdam

Thomas Buser

Das wichtigste Fortbewegungsmittel in Amsterdam ist das Velo. Und mehr noch als Brückchen, Kanäle, Coffeeshops und schlechtes Essen ist das Zweirad das Symbol der holländischen Metropole.

An jeder Ecke, jedem Brückengeländer und jedem Baum stehen dichtgedrängt Zweiräder. Kein Warnschild wird so häufig angebracht (und komplett ignoriert) wie «Fietsen plaatsen verboden». (Kleiner Wettbewerb: wer errät, was dies bedeutet, kann mir eine E-Mail schreiben. Unter allen Einsendern wird ein Paket Holländischer Stroopwaffels verlost).

Die Universität von Amsterdam beschäftigt sogar mehrere Angestellte, deren einzige Funktion es ist, Velos, die an einem aus feuerpolizeilichen Gründen ungeschickten Ort platziert wurden, zu verrücken.

Auf den Strassen Amsterdams ist der Velofahrer König. Es gibt eigentlich nur eine Regel: das Velo hat immer Vortritt. Das kommt allerdings nicht von ungefähr, sondern ist eine Folge der niederländischen Gesetzgebung, die den Velolenker von jeglicher Verantwortung für seine Verkehrsakrobatik entbindet und Autofahren in Amsterdam zum Eiertanz werden lässt.

Velo über alles

Der Autofahrer ist bei einem Unfall nämlich immer Schuld. Selbst wenn der Velofahrer mit Augenbinde unterwegs gewesen ist, bei Volllautstärke Beethovens Neunte gehört und dabei, seiner Grossmutter ein SMS schreibend, eine rote Ampel ignoriert hat, muss der Lenker immer noch für mindestens die Hälfte der Folgekosten aufkommen.

Beflügelt von dieser Freiheit lassen die Holländer ihrer Kreativität beim Erfinden kurioser Zweiradkonstrukte freien Lauf.

Der Höhepunkt holländischen Veloschaffens ist das Bakfiets, ein Velo, bei dem über einem winzig kleinen Vorderrad eine grosse hölzerne Kiste mit Bänkchen angebracht ist, auf dem bis zu drei Kinder oder auch zwei Kinder und ein Labrador Platz finden. Luxusversionen gibt es mit gepolsterten Sitzen und einem Plastikdach, das die Kleinen vor dem holländischen Wetter schützt.

Der Nieselregen

Womit wir auch schon beim wichtigsten Nachteil des niederländischen Zweiradphänomens wären: Leider ist das Wetter hier nur selten schön. Es gibt wohl kaum eine Wetterlage, die weniger sexy ist als der Amsterdamer Nieselregen.

Bei Nieselregen Velo zu fahren, fühlt sich in etwa so an, als ob einem jemand mit einem nassen Lappen konstant im Gesicht herumreibt. Noch unangenehmer ist es, wenn zusätzlich auch der Wind bläst. Stellen Sie sich vor, jemand sprüht ihnen kontinuierlich mit einem Pflanzensprüher ins Gesicht.

Mit Stahl gegen Klau

Ein weiteres Problem, mit welchem der Amsterdamer «Fietser» täglich konfrontiert wird, ist die Regelmässigkeit, mit welcher die Drahtesel geklaut werden. Die lokale Population der Junkies und Clochards verdient sich gerne ein kleines Zubrot damit, Fahrräder zu entwenden und diese weiterzuverkaufen.

Die treuesten Kunden sind Austauschstudenten, die für ihre sechs Monate in Amsterdam ein billiges Gefährt benötigen. Bei der Universität von Amsterdam gibt es eine kleine Brücke, im Volksmund auch «Junkie-Bridge» genannt, bei der gestohlene Velos angeboten werden.

Gegen dieses Problem ist im Gegensatz zum lausigen Wetter allerdings ein Kraut gewachsen. So findet beim Kauf von Veloschlössern ein eigentliches Wettrüsten statt. Drei Kilo schwere, massive Stahlketten sind keine Seltenheit, wobei es vor allem darum geht, zu signalisieren, dass das nächste Velo einfacher zu klauen ist als das eigene.

Ausserdem bemühen sich die Leute, ihre Velos so vergammelt wie möglich aussehen zu lassen, um sie für potentielle Diebe unattraktiv zu machen. Dies funktioniert aber nur bedingt, denn vergammelt bedeutet noch lange nicht fahruntüchtig, und bekiffte spanische Teenager sind keine besonders wählerischen Kunden.

Auf dem Velo ist vieles möglich

Die lange Erfahrung mit dem Velo als Hauptverkehrsmittel hat die Holländer auch zu wahren Meistern des Multi-Tasking werden lassen. Auf dem Velo SMS schreiben oder einen Regenschirm halten ist keine Seltenheit. Auch beliebt ist eine Hand am Lenker, die andere an der Bierharasse, die hinten auf dem Gepäckträger balanciert.

Kürzlich kam mir ein junger Herr in Anzug und Krawatte entgegen, der bei voller Fahrt eine Mappe mit Dokumenten durchging. Und mein Mitbewohner schwört, er habe letzten Sommer einen Typen gesehen, der während des Fahrradfahrens Gitarre gespielt habe.

swissinfo, Thomas Buser, Amsterdam

Immer häufiger reisen auch Jugendliche für längere Zeit ins Ausland.

Studenten profitieren von Austauschprogrammen.

Zu ihnen gehört Thomas Buser, der in Amsterdam seine Doktorarbeit in Entwicklungsökonomie verfasst.

Von dort berichtet er für swissinfo über seine Erlebnisse. Dies ist seine erste Postkarte.

Geboren am 18.09.1980 in Basel. Zur Schule ging er in Oberwil, Kanton Basel-Landschaft.

Er studierte an der HEC Lausanne Volkswirtschaft und schloss später an der University of Warwick in England mit Master ab.

Dazwischen arbeitete Buser mehrere Monate in Tansania und Polen.

Reisen ist eine seiner Lieblingsbeschäftigungen. So war er bereits in Skandinavien, Osteuropa und Südamerika unterwegs. Auch Kochen, Jassen, Lesen und Konzertbesuche gehören zu seinen Hobbys.

Zudem produziert er mit Freunden einen Podcast «über alles, was den Rock’n’Roll nicht sterben lässt». Diesen kann man downloaden unter: http://asdfghjkl.ch/podcast/.

Neben seiner Muttersprache Deutsch spricht Buser Englisch, Französisch und Spanisch. Zur Zeit ist er daran, Niederländisch und Portugiesisch zu lernen.

Seit September 2007 lebt und studiert der 28-jährige Basler in Amsterdam.

E-Mail-Adresse Thomas Buser: thomas.buser@gmail.com

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