Der Bergier-Bericht soll in die Schulzimmer
Die Erkenntnisse der Experten-Kommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg sollen in Form eines Schulbuches in den Geschichtsunterricht einfliessen.
Die Absicht stösst in rechtsbürgerlichen Kreisen auf Kritik.
Der im März 2002 abgeschlossene Bergier-Bericht durchleuchtet die Rolle von Schweizer Regierung und Schweizer Privatwirtschaft im Zweiten Weltkrieg kritisch und weist ihnen diverse Versagen nach.
Die Forschungsgruppe unter der Leitung des Geschichtsprofessors Jean-François Bergier eruierte mehrere Schwächen und Irrtümer in der Politik der Schweiz während dem Zweiten Weltkrieg. Besonders kritisiert wird das Verhalten gegenüber Flüchtlingen und die Kooperationspolitik mit dem Naziregime. Erwähnt sind auch die mangelnden Bemühungen um Entschädigung und Wiedergutmachung.
Die Zürcher Lehrmittel-Kommission hat nun dem Konzept zugestimmt, den Bergier-Bericht in Form eines Schulbuchs für 14- bis 18-jährige Oberstufenschüler aufzubereiten. Am 20. Oktober soll der Bildungsrat des Kantons Zürich, der unter der Leitung der sozialdemokratischen Bildungsdirektorin Regine Aeppli steht, definitiv über das Buch entscheiden.
Falls der Bildungsrat den Auftrag erteilt, dürfte das Buch durch die Vermittlung der Interkantonalen Lehrmittelzentrale wohl auch in 15 weiteren Deutschschweizer Kantonen verwendet werden. Allerdings wird es sich nicht um ein obligatorisches Lehrmittel handeln.
Unterstützung durch Bergier
Obwohl Jean-François Bergier nicht direkt in das Schulbuch-Projekt involviert ist, unterstützt er es. «Der Original-Bericht ist enorm ausführlich, über 11’000 Seiten», sagt der Geschichtsprofessor gegenüber swissinfo. «Deshalb denke ich, dass eine kürzere Version nötig ist, um jungen Leuten den Inhalt schmackhaft zu machen.»
«Ich hoffe, dass auch eine breite Öffentlichkeit Interesse für das Buch zeigen wird. Denn es ist für eine Landesbevölkerung immer sehr wichtig, über ihre eigene Geschichte Bescheid zu wissen – sowohl über das Gute wie auch über das Schlechte. Eine Nation kann nur dann eine klare Zukunftsaussicht haben, wenn sie ihre eigene Geschichte akzeptiert und versteht», so Bergier.
Opposition von rechts
Obwohl der Bergier-Bericht bei seiner Veröffentlichung im vergangenen Jahr von Regierung und Medien gelobt wurde, stösst er bei vielen Teilen der Schweizer Bevölkerung weiterhin auf Kritik.
Opposition kommt aus dem rechtsbürgerlichen Lager. Zusammengeschlossen haben sich die Kritiker in der Interessen-Gemeinschaft Schweiz-Zweiter Weltkrieg, die von Luzi Stamm, Nationalrat der Schweizerischen Volkspartei (SVP), geleitet wird.
«Ich stelle fest, dass alle neuen Bücher, die sich mit dem Zweiten Weltkrieg befassen, immer den Bergier-Bericht zitieren müssen», sagt Stamm gegenüber swissinfo. «Ich befürchte, dass dieses geplante Schulbuch den gleichen Grundtenor wie der Bergier-Bericht selbst haben wird. Ein Tenor, der nur die negativen Seiten betont.»
«Während des Zweiten Weltkrieges hat die Schweiz sicher Fehler gemacht. Aber der Bergier-Bericht schreibt lieber über das Schicksal eines einzigen abgewiesenen Flüchtlings als über die 99 anderen, die in unserem Land aufgenommen wurden. Und der Bericht hackt lieber auf wenigen Individuen herum, die Hitler unterstützt haben, als dass er über jene vielen Leute spricht, die gegen den Diktator waren.»
Stamm befürchtet, dass es schwierig sein wird, das geplante Schulbuch zu verhindern. Dennoch ist er überzeugt, dass der Bergier-Bericht in den nächsten 15 oder 20 Jahren ebenso hart kritisiert werden wird wie der Bericht selber die Schweiz im Zweiten Weltkrieg kritisiert.
Unterstützung von jüdischer Seite
Jean-François Bergier hat seinerseits den Vorwurf, der Bericht sei «anti-schweizerisch», immer scharf zurückgewiesen. «Ich hoffe, dass das Schulbuch dies beweisen wird», so Bergier.
Diese Hoffnung teilt der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG). «Wir haben seit der Veröffentlichung des Bergier-Berichtes für ein derartiges Projekt gekämpft», sagt SIG-Präsident Alfred Donath. «Es ist sehr wichtig, dass die jüngere Generation Bescheid weiss über die Haltung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg und über das damalige Schicksal der Juden.»
Er stimme jedoch überein, dass man nicht nur die negativen Seiten betonen solle: «Denn es gab viele Schweizer, die bei der Rettung jüdischer Flüchtlinge ihr Leben riskierten. Aber es ist wichtig, dass die Schweizer Öffentlichkeit akzeptiert, was geschehen ist und realisiert, dass das Verhalten der Schweiz nicht so untadelig war, wie das früher immer proklamiert wurde. Nur so können wir in der Zukunft Ähnliches verhindern.»
swissinfo, Mark Ledsom, Zürich
(Übertragung aus dem Englischen: Jean-Michel Berthoud)
März 2002: Die «Unabhängige Experten-Kommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg» unter Leitung von Jean-François Bergier präsentiert ihren Schlussbericht
In 5 Jahren entstanden zudem insgesamt 25 Teilberichte
Schlussfolgerung: «Ungeheuerliche Versagen» von Schweizer Regierung und Privatwirtschaft während der Nazi-Herrschaft
Geistige Mutter des geplanten Schulbuches ist die Historikerin Barbara Bonhage, die für die Bergier-Kommission tätig war und an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich arbeitet.
Zusammen mit dem Aargauer Didaktiker Peter Gautschi hat sie ein Konzept für ein Buch ausgearbeitet, dessen Inhalt auf den 25 Teilberichten und dem Schlussbericht der Kommission basiert.
Das Buch wird sich sich nicht auf reine Geschichtsvermittlung beschränken. Vielmehr verlangt die Lehrmittel-Kommission, dass es einen Bezug zur Gegenwart herstellen soll.
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