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Der Forscher, der 27 Jahre im Keller einer Schule wohnte

Wilhelm Kaiser
Wilhelm Kaiser wollte nah bei seinen Schriften sein. Wohnkomfort war ihm nicht so wichtig. ZVG/Nachlass Zentralbibliothek Solothurn

Wilhelm Kaiser hat auf Komfort und Tageslicht verzichtet, und ist in den Luftschutzkeller der Kantonsschule Solothurn gezogen. Auf den Spuren eines rätselhaften Mannes.

Ein langer Gang im Keller einer Schule. Es ist dunkel. In einem Luftschutzkeller beugt sich ein grosser, hagerer Mann über ein Buch. Er lebt hier, schläft auf einem Feldbett und isst oft ein Hirse-Gericht mit Spinat und rohem Ei. Er darf nur dann an die frische Luft, wenn kein Schulbetrieb herrscht, weil er sonst Schülerinnen und Schüler irritieren könnte.

Was klingt wie der Beginn eines gespenstischen Horrorfilms, war während 27 Jahren in der Kantonsschule Solothurn Realität. In dem dunklen, fensterlosen Luftschutzkeller wohnte Wilhelm Kaiser von 1955 bis 1983, umgeben von seinen Schriften.

“Wo meine Werke sind – da kann auch ich sein. Und wo ich bin – da ist mein Werk”, dürfte er sinngemäss gesagt haben. Dies schreibt Rolf Weber, der sich jahrelang mit der Person und dem Forscher Wilhelm Kaiser beschäftigt hat. Es ist eine Geschichte, die bis heute in den Gängen der Kantonsschule Solothurn erzählt wird, vom Kantigeist.

Kaiser regt die Fantasie an

“Als ich 1988 in der Kanti war, gab es eine Türe, die geschlossen war und zu der niemand einen Schlüssel dazu hatte”, erinnert sich Jan Schneider, der heute an der Kantonsschule als Lehrer unterrichtet.

Tür zu Kaisers Kellerraum
Dies ist der Eingang zum Kellerraum, in dem der Kantigeist während 27 Jahren wohnte. Heute ist es hier still. SRF/Alex Moser

“An einem heissen Tag war ich mit meinen Schülerinnen und Schülern mal im Keller, um uns abzukühlen. Da kam mir die Idee, die Geschichte des Kantigeists aufzuarbeiten.” So entstand als Klassenprojekt ein Buch über Wilhelm Kaiser.

Geboren wurde er am 23. Februar 1895. Nach der Ausbildung zum Primarlehrer studierte er Mathematik, Physik, Chemie und doktorierte in Astronomie. Allerdings fokussierte er sich danach nicht nur auf die klassische Forschung, sondern war fasziniert von der Anthroposophie, der Lehre von Rudolf Steiner.

In diesen Kreisen eckte er aber nach einer gewissen Zeit an, weil er es wagte, Rudolf Steiner zu korrigieren, schreibt Rolf Weber. Für die Anthroposophen war dies eine Unverschämtheit. Aufgrund seiner Nähe zur Anthroposophie war Kaiser aber auch in der Wissenschaft nicht als Forscher akzeptiert.

Ein regelmässiges Einkommen hatte Wilhelm Kaiser keines. 1955 musste er seine bisherige Wohnung räumen.

Auf der Suche nach einer Bleibe

Deshalb bot ihm das Bildungsdepartement Räume im Untergeschoss der Kantonsschule an. Eigentlich als Lagerort für seine Forschungsarbeiten und nicht als Wohnung. Mehrfach wurde er darauf hingewiesen, dass er dort nicht wohnen könne.

Tatsächlich hatte Kaiser auch andere Zimmer und Wohnungen, störte dort aber früher oder später die anderen Mieterinnen und Mieter mit seiner nächtlichen Arbeit. Mit der Zeit wurde er in der Kantonsschule als schrulliges Original geduldet. Statt ins Wohnen investierte er das wenige Geld lieber in die Publikation und den Druck seiner Werke, schreibt Rolf Weber.

Im Keller stapeln sich Kaisers Dokumente
Im Keller stapelten sich seine Dokumente. Er schlief dazwischen auf einem Feldbett. ZVG/Nachlass Kantonsbibliothek Solothurn

Fast unglaublich, aber schriftlich belegt, ist die Tatsache, dass er von der Schulleitung angewiesen wurde, tagsüber im Keller zu bleiben. Es war ihm explizit verboten, sich während der Unterrichtszeit in den Schulgängen zu zeigen.

Viel Arbeit, wenig Resonanz

Zurück in die Gegenwart: Die Schülerinnen und Schüler der Fachmittelschule haben sich auch mit der komplexen Forschung von Wilhelm Kaiser befasst.

Dabei ist Lehrer Jan Schneider aufgefallen, dass er einen anderen, veralteten Ansatz als andere Astronomen verfolgte und die Erde als Zentrum des Universums betrachtete.

eine Schrift Kaisers
Kaiser ging fälschlicherweise davon aus, dass die Erde das Zentrum des Universums sei. ZVG/Nachlass Kantonsbibliothek Solothurn

Rolf Weber, der sich ebenfalls mit den Forschungen auseinandersetzte, betont, dass es für Kaiser nur eine Sonne im Weltall gab und dass diese sich bewege.

Das umfangreiche Werk von Wilhelm Kaiser ist bislang nicht aufgearbeitet worden, eine Anerkennung für seine Forschung erhielt er zeit seines Lebens nie. Als Person ist er dagegen auch nach seinem Tod 1983 nie in Vergessenheit geraten, wenn auch nicht wegen seiner Forschung, sondern als Kantigeist.

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