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Der Kanton Jura, oder der Sieg der Respektlosigkeit

Die jurassische Fahne, die bereits 1950 durch die Berner Verfassung genehmigt wurde. Keystone

Am 23.Juni 1974, vor dreissig Jahren, entschieden die Jurassier an der Urne, sich vom Kanton Bern zu trennen und damit den 26. Schweizer Kanton zu gründen.

Die Abstimmung beendete einen jahrzehntelangen heftigen Streit. Sie führte aber auch zum Zerfall der jurassischen Einheit.

Es war ein jahrzehntelanges Psychodrama. Wozu? Für eine simple Veränderung der inneren Grenzen der Schweiz. Heute, in der Zeit der erweiterten Europäischen Union, erscheint einem die «Jura-Frage» vielleicht harmlos. Doch sie war symptomatisch für eine besondere Denkart in der Schweiz.

«Seit 1848 hatte sich nichts mehr geändert in der Schweiz. Alles war festgelegt. Der Jura-Konflikt stellte somit vieles unvermittelt in Frage», sagt Alain Pichard, Autor des Buches «Die Jura-Frage».

Ein Konflikt mit vielfältigen Ursachen

Der historische Jura, Teil des ehemaligen Bistums Basel, wurde am Wiener Kongress 1815 dem Kanton Bern zugewiesen. Das jurassische Volk, frankophon (mit Ausnahme des Bezirks Laufen) und katholisch, kam damit unter die Herrschaft eines deutschsprachigen, protestantischen Kantons, was Widerwillen weckte.

Hinzu kam, dass sich die Jurassier im Norden zusehends als blosse Milchkühe des Kantons fühlten. Ihre frankophone Kultur wurde ignoriert, Investitionen aus Bern flossen nur spärlich, besonders im Bereich der Strassen- und Eisenbahn-Infrastruktur. Der Zorn wuchs.

Der Süd-Jura dagegen erlebte zur selben Zeit eine wachsende Industrialisierung und in der Folge eine beachtliche Einwanderung von Deutschsprachigen.

Dieses wirtschaftliche Auseinanderdriften war mit ein Grund für die Anti-Separatistische Bewegung der Leute im Süden, sagt Alain Pichard: «Sie hatten Angst, sich eine Unterstützungsaufgabe aufzuhalsen.»

«Die Leute im Süden waren zudem sehr unpolitisch, während die katholischen Nord-Jurassier wesentlich kämpferischer waren. Im Süden befürchtete man deshalb, dass in einem Kanton Jura die ‹Sozialhilfe-Empfänger› in der Politik zur führenden Klasse würden», fügt Pichard bei.

Der ethnische Kampf stand am Anfang

Die Eigenart des jurassischen Separatismus ist ausserhalb der politischen Parteien entstanden. Eine intellektuelle Entrüstung angesichts der Gefahr der Germanisierung, ein Kampf für die französische Sprache, geführt seit den 50er-Jahren vom Generalsekretär des «Rassemblement jurassien», Roland Béguelin, unterstützt von Schriftstellern wie Alexandre Voisard oder Jean Cuttat.

Der Kampf wurde offen als ein ethnischer geführt. «1959 war es das Ziel, im Blick auf eine Volksabstimmung den Ausschluss der bernischen Einwanderer und das Stimmrecht für emigrierte Jurassier zu erreichen», erklärt Alain Pichard. Das Kriterium war also kein geographisches; entscheidend sollte die Herkunft der Wähler sein.

Die Volksabstimmung von 1974 wurde – im Interesse der Berner – durch eine stufenweise Abstimmung ersetzt.

Die Mehrheit der Jurassier stimmte in der Folge einer Abspaltung zwar zu. Jene Bezirke jedoch, in denen eine Mehrheit gegen die Separation gestimmt hatte, konnten eine neue Abstimmung verlangen, um bei Bern zu bleiben.

Das geschah 1975 mit den Bezirken Moutier, Courtelary und La Neuveville, die mit ihrem Entscheid die Zweiteilung des geschichtlichen Juras herbeiführten.

Streit und verletzende Polemik

Heute ist der Jura ein Kanton, dessen legale Basis niemand mehr in Frage stellt. Wer die 60er- und 70er-Jahre jedoch miterlebt hat, erinnert sich an die scharfe und verletzende Polemik, welche die Zeit in diesem Landesteil geprägt hat.

Neben den vielfachen Ursachen – den historischen, sprachlichen, religiösen oder wirtschaftlichen – traten im Jura-Streit andere Aspekte zu Tage: Die Ablehnung der Armee (die im nördlichen Jura einen Waffenplatz einrichten wollte), die regionale Unabhängigkeit (nach Vorbild von Québec in Kanada, aber auch von Korsika und der Bretagne in Frankreich) und der Wunsch nach Selbstverwaltung.

Völlige Respektlosigkeit

Provokation spielte dabei ebenfalls eine Rolle, denn die Aktionen des FLJ (Front de libération jurassien), hart an der Grenze zum Terrorismus, haben niemandem je ein Lächeln entlockt, und der Aktivismus der Bewegung «Bélier», gegründet von jungen Separatisten, demonstrierte völlige Respektlosigkeit. Sie wagten es sogar, ihre Forderungen über die nationalen Grenzen hinauszutragen.

«Die Jura-Frage ist kurz nach 1939/40 aufgebrochen – eine Zeit, in der die nationale Einheit glorifiziert wurde. Der Kalte Krieg führte zu einer Art Einheit der Parteien und zur Etablierung der ‹Zauberformel›. Es war eine Zeit, in der die Schweiz alle internen Konflikte leugnen wollte», bestätigt Alain Pichard.

Die Separatisten aber schockierten, und sie machten Angst. Denn während ihres Kampfes griffen sie auch nationale Werte an und wagten es gar, die Perfektion des Schweizer Modells in Frage zu stellen.

swissinfo, Bernard Léchot
(Übertragung aus dem Französischen: Katrin Holenstein)

Der Kanton Jura feiert dieses Jahr sein 30-jähriges Bestehen und das 25-jährige Jubiläum der vollen Souveränität.

«Jura 25-30» präsentiert der Kanton ein breites Angebot an kulturellen und volkstümlichen Festivitäten.

Zum Jahrestag der Volksabstimmung ist die Bevölkerung am 23.Juni nach Pruntrut zu einem grossen Fest eingeladen.

Alain Pichard ist seit fast 25 Jahren Journalist bei der Westschweizer Tageszeitung «24 Heures».

Er verfolgt das Dossier Jura seit 1974 und hat zum Thema ein Buch geschrieben mit dem Titel «Die Jura-Frage».

Es ist kürzlich erschienen bei Presses polytechniques et universitaires romandes (collection «Le savoir suisse»).

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