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Der lange Schatten von «9/11» über der Schweiz

Schweiz - freies Land oder Gefängnis? Wo liegen die Grenzen? swissinfo.ch

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 haben die USA dem Terror weltweit den Krieg erklärt. Mit Folgen für die Grundrechte. Auch die Schweiz will diese jetzt antasten.

Mit dem verschärften Gesetz für die Wahrung der inneren Sicherheit will sich der Staat Zugang zur Privatsphäre auch unverdächtiger Bürger verschaffen. Das stösst auf Kritik.

Sechs Wochen nach den Flugzeug-Attacken auf das World Trade Center und das Pentagon unterzeichnete US-Präsident George W. Bush den Patriot Act. Das Gesetz stellte die schärfste Waffe im Kampf gegen den Terror innerhalb der US-Grenzen dar: Es setzte zentrale Grundrechte der Einwohner mit einem Schlag ausser Kraft.

Das Gesetz, seither zunehmend kritisiert, aber in wesentlichen Teilen immer noch gültig, verpflichtet auch die Fluggesellschaften, den US-Behörden eine Liste mit Daten über jeden Passagier abzuliefern.

In der Schweiz schloss die damalige Justizministerin Ruth Metzler mit den USA rasch das Operative Working Arrangement (OWA) ab. Darin regelten die beiden Länder ihre geheime Kooperation im Kampf gegen die Terroristen und ihre Finanzierungsquellen.

Ausreichendes Instrumentarium

Die Schweizer Behörden hatten allgemein Ruhe bewahrt. Einen Angriff auf die Grundrechte wie in den USA gab es nicht. «Es ist positiv zu vermerken, dass in der Schweiz ein solcher Reflex auf diese Ereignisse nicht eingetreten ist», sagt der eidgenössische Datenschutzbeauftragte Hanspeter Thür gegenüber swissinfo. Der ehemalige Nationalrat war zum Zeitpunkt der Anschläge gerade elf Tage im Amt.

Eine Überprüfung der Instrumente zur Abwehr des Terrorismus habe gezeigt, dass diese in der Schweiz – mit wenigen Ausnahmen – ausreichend seien. Thür ist der Meinung, dass dies bis heute, also auch nach den Anschlägen von Madrid und London, der Fall sei.

Abstriche mit Europol

Für den grünen Zürcher Nationalrat Daniel Vischer, der die Rechtskommission der grossen Kammer im Berner Bundeshaus präsidiert, zeugt das damalige OWA von einer gewissen «Hörigkeit gegenüber den USA», diese im Kampf gegen ihre Feinde zu unterstützen.

Eine Zäsur markiert für ihn das Europol-Abkommen, welches die Schweiz im März 2006 unterzeichnete. «Damit verabschiedete sie sich von ihrem bisherigen Vorbehalt, Menschen nicht aus politischen Gründen auszuliefern.» Vischer wertet dies als eine Beugung vor den USA. Diese bestimmten aufgrund ihrer Terrorlisten, wer zu den Bösen gehöre.

Eingriffe in Privatsphäre

So mild Datenschützer Thür die unmittelbaren Schweizer Reaktionen auf die Anschläge kommentiert, so hart geht er mit der Verschärfung des Bundesgesetzes zur Wahrung der inneren Sicherheit (BWIS II) ins Gericht, welche die Schweizer Regierung im Juli in die Vernehmlassung schickte.

Der Entwurf stammt aus der Feder des Dienstes für Analyse und Prävention (DAP), welcher dem Bundesamt für Polizei (fedpol) angegliedert ist und den Staatsschutz im Innern sicherstellt.

«Das neue Gesetz sieht nicht nur die mögliche Überwachung von Telefon-, Post und E-mail-Verkehr von Bürgern vor, sondern auch die gezielte Aushorchung von Privaträumen», sagt Thür. Für ihn besonders inakzeptabel: Der staatliche Lauschangriff soll ohne jeglichen Tatverdacht möglich sein.

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fedpol

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Das Bundesamt für Polizei (fedpol, früher BAP) dient im Bereich der Inneren Sicherheit der Schweiz als Zentrum für Information, Koordination und Analyse für kantonale und internationale Partner. In der Schweiz sind die kantonalen Polizeikorps für den grössten Teil der Ermittlungen zuständig. Doch seit 2002 kann das fedpol in Fällen von Schwerstkriminalität (Organisierte Kriminalität, Geldwäscherei, Korruption)…

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Abstriche

Die Massnahmen erachtet der Datenschützer als völlig unverhältnismässig. «Dass sie fünf Jahre nach den Ereignissen in den USA aufs Tapet kommen, zeigt zudem, dass es mit der Dringlichkeit nicht weit her ist.»

Thür geht davon aus, dass aber «die Suppe nicht so heiss gegessen wird», sprich in Parlament und einer allfälligen Volksabstimmung kaum in der Form durchgehen werden.

Denn einerseits würden die Überwachungsabsichten der Geheimdienste bis weit ins bürgerliche Lager hinein sehr kritisch hinterfragt, andererseits zeige die Fichenaffäre in den Köpfen der Bürger auch nach 16 Jahren immer noch ihre Wirkung. Ende der 1980er-Jahre war publik geworden, dass Staatschutz und Polizei in der Schweiz rund 900’000 Fichen über Bürgerinnen und Bürger angelegt hatten, weil sie linker Aktivitäten verdächtigt worden waren.

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Vernehmlassung

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Vernehmlassung oder das Vernehmlassungsverfahren ist die Konsultation von betroffenen und interessierten Kreisen (auch Mitwirkungsverfahren). Sie ist eine wichtige Phase im schweizerischen Gesetzgebungsverfahren. Bei der Vorbereitung wichtiger Gesetze und anderer Vorhaben von grosser Tragweite sowie bei wichtigen völkerrechtlichen Verträgen werden die Kantone, die politischen Parteien und die interessierten Kreise zur Stellungnahme eingeladen.

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Mehr Sicherheit, weniger Rechte

Solchen Optimismus teilt der ehemalige Berner Staatsrechtsprofessor Jörg Paul Müller nicht. Er glaubt, dass die Fichenaffäre schon wieder vergessen sei. «Es ist erschreckend, was die Bürger bereit sind hinzunehmen, beispielsweise an Kontrollen auf den Flughäfen.»

Die geplante Ausdehnung der Überwachungs-Möglichkeiten zeigt laut dem Grundrechts-Spezialisten einmal mehr, wie wichtig in der Schweiz ein Verfassungsgericht wäre, das Gegensteuer geben könnte.

Als Ursache des geschwundenen Bürgersinns im Umgang mit Grundrechten macht der Jurist auch in der Schweiz eine sich ausbreitende Angst aus, angesichts der sich Menschen in Unfreiheit begeben würden, um mehr Sicherheit zu erlangen.

Ursprung dieser Angst sei der Islam, dessen Anhänger unter einem Generalverdacht stünden. «Die Bemühungen zu einer multikulturellen Gesellschaft sind offensichtlich gescheitert», so das ernüchternde Fazit Jörg Paul Müllers.

swissinfo, Renat Künzi

Ermittlungen des Staatschutzes sind nur im öffentlichen Raum und bei öffentlichen Daten zulässig.

Das BWIS II sieht eine Ausdehnung auf die Privatsphäre vor – auch ohne Tatverdacht.

Laut Entwurf könnten auch Drittpersonen überwacht werden, die einem mutmasslichen «Gefährder» Einrichtungen zur Verfügung stellen.

Die Regierung bewilligte jüngst den Einsatz von Überwachungs-Drohnen im Grenzgebiet.

Justizminister Christoph Blocher forderte die Kantone auf, Bänder von Videokameras 48 statt bisher 24 Stunden aufzubewahren.

Anschläge der Al Kaida in den USA und Europa:
USA: 11.9.2001: 3000 Tote.
Madrid: 11. März 2004: 191 Tote.
London: 7. Juli 2005, 56 Tote.

Der Dienst für Analyse und Prävention (DAP) des Bundesamtes für Polizei (fedpol) ist das Staatsschutzes-Organ des Bundes.

Der Dienst analysiert die innere Sicherheit in einem jährlichen Sicherheitsbericht.

Am 1. März 2006 unterzeichnete die Schweiz mit der EU das Europol-Abkommen.

Seit 2005 ist sie Teil des Schengen-Raumes.

Im Juli 2006 schlossen die Schweiz und die USA ein Abkommen über die Zusammenarbeit in der Terrorbekämpfung ab.

Seit September 2006 können Schweizer Bürger den biometrischen Pass beziehen, den die USA für eine visafreie Einreise für obligatorisch erklärten.

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