Der Vallorber Asyl-Kultur-Schock
Zwei Welten – neue Asylbewerber und alteingesessene Bewohner - leben in gegenseitiger Isolation in der malerischen Stadt Vallorbe im Waadtländer Jura. Ein Augenschein zum Tag der Flüchlinge.
Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf war am vergangenen Samstag auf Besuch im Empfangszentrum für Asylbewerber von Vallorbe, das seine Pforten für die Bevölkerung geöffnet hatte.
Dieser Tag der offenen Tür ist Teil einer Reihe von Massnahmen, um die Spannungen zwischen den Asylsuchenden und der lokalen Bevölkerung zu entschärfen.
Vallorbe beherbergt eines der vier schweizerischen Empfangszentren für Asylsuchende. Weitere Zentren befinden sich in Basel, Kreuzlingen und Chiasso. Ein Problem: Die 200 Asylbewerber im Vallorber Zentrum machen 8% der lokalen Bevölkerung von 3200 Personen aus. In Basel beträgt der Anteil lediglich 0,3%.
Das Zentrum befindet sich über dem Städtchen, nur einen kurzen Fussmarsch vom Bahnhof entfernt, dem traditionellen Treffpunkt für viele, die auf Antwort auf ihre Anträge warten.
Die Präsenz der zahlreichen Ausländer am Bahnhof und in der Stadt, vor allem aus Afrika und dem Balkan, hat zu Spannungen zwischen den Einheimischen und den Fremden geführt.
So forderte der Gemeinderat im Dezember 2007, die Asylsuchenden dürften sich nicht mehr am Bahnhof aufhalten. Die Waadtländer Kantonsregierung bezeichnete dies jedoch als nicht verfassungskonform.
Schwere Bürde
Die kantonalen und die Bundesbehörden haben versprochen, die Situation zu entschärfen.
«Vallorbe hat mit diesem Zentrum eine schwere Bürde zu tragen. Es gibt Spannungen – in einigen Fällen reale, in anderen wegen fehlendem Verständnis für die anderen,» sagte der Vallorber Bürgermeister Laurent Francfort.
«In den letzten fünf Jahren haben sich aber keine ernsthaften Zwischenfälle ereignet, abgesehen von einem körperlichen Angriff am Bahnhof sowie einigen Fällen von Ladendiebstahl. In gewissen Teilen der Bevölkerung herrscht jedoch ein Gefühl der Unsicherheit, vor allem bei älteren Menschen und jungen Frauen.»
Für den Rentner Raymond Cédric sind die Probleme real: «Jeden Tag spürt man die Spannung, auch wenn wir uns langsam an die Asylbeweber gewöhnen.»
Philippe Hengy, Direktor des Vallorber Empfangszentrums, empfindet das gegenwärtige Klima als «ständigen Kulturschock».
Esther Graf jedoch winkt ab: «Die Afrikaner sind höflicher als die meisten Leute, die ich kenne. Ich fahre jede Woche Zug, und sie stören mich überhaupt nicht.»
Nuslim, ein 39-jähriger Kurde, spürt von den Einheimischen zwar keine Feindseligkeit, «aber als ich versuchte, mit ihnen in Kontakt zu treten, wollten sie nicht, da sie wussten, dass ich ein Asylbewerber bin. Sie sind kalt.»
Zunehmender Druck
René Gfeller, freiwilliger Helfer im Asyl-Zentrum am Bahnhof meint, es herrsche ein Gefühl der Unsicherheit unter den Einheimischen. «Und der Druck hat in Vallorbe zugenommen, seit die Asylbewerber länger bleiben, so wie es das neue Asyl-Gesetz vorsieht.
Ein Asylverfahren nimmt mehr Zeit in Anspruch, seit am 1. Januar 2008 das neue Asylgesetz in Kraft getretenen ist. So bleiben nun Asylsuchende durchschnittlich 32 Tage im Zentrum, früher waren es 10.
Aber Gfeller will zwischen den Ausländern und den Bewohnern «Brücken bauen, keine Mauern». Denn es sei eine Tatsache, dass Angst krank macht.
«Viele Menschen hier werden wütend, wenn sie herumlungernde Asylbewerber sehen, die an den schönsten Orten von Vallorbe einfach ihren Müll wegwerfen», sagte er gegenüber swissinfo.
Sondermassnahmen
Die Behörden versuchten, den Druck zu lindern, indem sie im März eine Reihe von Sondermassnahmen ankündigten.
So wurde die Höchstzahl von Asylbewerbern im Vallorber Zentrum von 276 auf 180 herabgesetzt. Diese Zahl darf nur im Notfall überschritten werden.
Ab September können sich täglich 8 – 10 Leute an Gemeindearbeiten beteiligen, z.B. bei der Abfallentsorgung von Flussufern und Wanderwegen. Derzeit dürfen Asylsuchende keine bezahlte Arbeiten ausführen.
Weiter werden jeden Tag 15 – 30 Menschen an einem begleiteten Vallorbe-Rundgang teilnehmen und Sehenswürdigkeiten wie die Vallorber Kalksteinhöhlen und das Eisen- und Eisenbahnmuseum besichtigen.
Zudem werden der örtliche Fussballplatz, das Eislauffeld und Kegelbahnen zur Verfügung stehen, und das Asyl-Zentrum am Bahnhof soll in eine grössere Container-Anlage verlegt werden.
Die neuen Vorschläge finden zwar breite Unterstützung, nicht jeder ist aber glücklich mit den langfristigen Perspektiven für Vallorbe.
«Ich glaube nicht, dass wir viel tun können, um die Dinge zu verändern», sagt Cédric. «Der Bund hat die derzeitige Situation zu verantworten, wir sind machtlos.»
Im Asyl-Hilfe-Zentrum am Bahnhof merkt man nicht viel von der schlechten Stimmung draussen. Eine Gruppe junger Eritreer trinkt Tee und beschäftigt sich mit einem Dame-Spiel, während ihr Nachbar, ein Afghane, sein Puzzle beendet.
Ziyhaf Al Mashadanj, ein 35-jähriger Künstler aus Bagdad, zeigt Gfeller seine Skizzen von Asylbewerbern und der Umgebung.
«Die Schweiz ist ein sehr schönes, ruhiges und sauberes Land. Die Situation in Irak ist so schrecklich. Ich möchte in Europa bleiben, denn ich kann nicht zurück. Wenn ich müsste, würde ich verrückt.»
swissinfo, Simon Bradley in Vallorbe
(Übertragung aus dem Englischen: Etienne Strebel)
2007 wurden in folgenden Industrie-Nationen am meisten Asylanträge eingereicht:
USA: 49’200
Schweden: 36’200
Frankreich: 29’900
Kanada: 28’300
Grossbritannien: 27’900
Griechenland: 25’110
Deutschland: 19’600
Italien: 14’050
Österreich: 11’880
Belgien: 11’120
Die Schweiz befindet sich auf Platz 11 mit 10’390 Anträgen, von denen 1561 positiv beantwortet wurden.
Rund 16% der Asylanträge (1662) wurden von Eritreern gestellt. Danach folgten Serben mit 953 Anträgen und weiter Irak, Türkei und Sri Lanka.
Die höchste Zahl der Asylgesuche (48’000) wurde 1999 registriert – 30’100 kamen aus Serbien und Kosovo.
Die Schweiz steht punkto Migration vor ähnlichen Herausforderungen wie andere Länder in Europa. In den letzten Jahren wurde eine grosse Anzahl von Asylbewerbern registriert, von denen die meisten keinen Anspruch auf den Flüchtlingsstatus oder einen Aufenthalt in der Schweiz hatten.
Im September 2006 wurde das neue Einwanderungs- und Asylgesetz von zwei Dritteln der Stimmbevölkerung angenommen. Mit dem neuen Gesetz sollte die Schweiz für Migranten weniger attraktiv gemacht und Missbrauch eingedämmt werden. Es handelte sich um die neunte Asylgesetzrevision seit 1984.
Danach werden Asylbewerber ohne gültige Ausweispapiere, die für das Fehlen keine glaubwürdige Erklärung liefern können, innerhalb 48 Stunden des Landes verwiesen.
Abgewiesene Asylsuchende, deren Rekursmöglichkeiten ausgeschöpft sind, werden von den Sozialhilfeleistungen ausgeschlossen und erhalten nur Nothilfe. Diese umfasst Essen, Unterkunft, Kleidung und medizinische Hilfe in Notfällen.
Abgewiesene Asylsuchende, welche das Land nicht verlassen, können mit bis zu 2 Jahren Haft bestraft werden.
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