Deutsch–schweizerische Gefühle im Wechselbad
Zwischen der Schweiz und Deutschland werden die Kontakte immer enger. Deshalb sind sie auch nicht ganz reibungsfrei. Vor dem Besuch von Angela Merkel spricht swissinfo mit Christina Marzluff, die bei Schweiz Tourismus für Deutschland zuständig ist.
Für Ende April erwartet die Schweiz den Besuch der deutschen Bundeskanzlerin. Im Gegensatz zu früher, als eine relativ ereignislose Nachbarschaft das Beziehungsmuster prägte, ist der Umgang heute viel intensiver, und deshalb nicht reibungsfrei.
Angela Merkel muss sich viel stärker als ihre Vorgänger mit hängigen und heissen Dossiers beschäftigen, die ihren kleinen Nachbarn im Süden betreffen. Dieser tut längst nicht immer das, was Berlin und auch Brüssel gerne hätten.
Zwischen Berlin und Bern steht Christina Marzluff. Als Direktorin von «Schweiz Tourismus» für Deutschland und Österreich sieht sie die Schweiz mit zwei Brillen: Von Frankfurt aus als Deutsche, aber als Schweizer Tourismus-Expertin.
swissinfo: Welcher Auslandmarkt ist für den Schweizer Tourismus der wichtigste?
Christina Marzluff: Der deutsche, und das mit Abstand. In absoluten Zahlen seit vielen Jahren. Fast 30% aller ausländischen Logiernächte entfallen auf Deutschland.
swissinfo: Was haben sich die Deutschen im vergangenen Jahr gedacht, als sie trotz einer gewissen politischen Hartnäckigkeit der Schweiz zu uns in die Ferien kamen?
C.M.: Geht es um den Urlaub, urteilt der Deutsche relativ schmerzlos – besonders was die Schweiz betrifft. Das Jahr 2007 bescherte der Schweiz einen Zuwachs von über 320’000 Logiernächten aus Deutschland. Das ist ein sattes Plus von 5,6%.
swissinfo:Was bezwecken deutsche Touristen sonst noch, wenn sie in die Schweiz kommen? Nehmen sie die Gelegenheit oft auch wahr, um ihr Bankkonto hier zu checken?
C.M.: Ich denke, der Deutsche ist in vielerlei Hinsicht gut ausgerüstet. Selbstverständlich gibt es Leute, die die Bankenvorteile, welche die Schweiz bietet, ausnützen. Aber Statistiken oder Zahlen dazu kenne ich keine.
swissinfo: Wenn jeweils ein Prominenter dabei erwischt wird, rauscht es mächtig im deutschen Blätterwald. Erregt sich die deutsche Öffentlichkeit mehr über die Finanztransfers von Privatpersonen oder über das Unternehmens-Steuerparadies Schweiz?
C.M.: Wenn es um die Meinung im Volk geht, dann dominiert das Gefühl der Ungerechtigkeit. Danach sorgt in Deutschland der Staat nicht vor, dass das Kapital im Inland bleibt. Und in der Folge suchen viele, Privatpersonen oder Unternehmen, ihren Vorteil im Ausland.
Das hat mit dem Steuersystem in Deutschland zu tun, an dem sich schon manche Regierung ihre Zähne ausgebissen hat. Noch ist der beste Weg nicht gefunden.
swissinfo: Viele Deutsche, die bisher vor allem als Urlauber kamen, bleiben neuerdings am liebsten gleich hier. Was hält man in Deutschland von dieser Tendenz?
C.M.: In Deutschland sieht man es als legitim an, in ein so schönes Land auszuwandern, das dazu noch so gute Arbeitsbedingungen offeriert.
Das Auswandern ist für die Deutschen nichts Neues. Sie erachten die Schweiz als wunderschönes Land. Sobald ich in Deutschland sage, dass ich für die Schweiz arbeite, hellen sich die Mienen auf.
swissinfo: Empfinden es die Deutschen nicht als seltsam, in Massen in so ein kleines Land auszuwandern, das kleiner als einige Bundesländer ist? Nicht die Weite der USA zieht sie an, sondern die Enge Helvetiens?
C.M.: Erstens liegt das Gute so nah, denkt sich mancher in Deutschland.
Zum anderen werden die in Deutschland lebenden Schweizer immer bekannter. Das bringt das Land näher. Der Austausch erscheint natürlicher als früher.
Auch in Deutschland ist die Welt inzwischen internationaler geworden.
swissinfo: A propos international. Hier wird man aus den deutschen Wünschen bezüglich des Flughafens Zürich-Kloten nicht schlau. Regionalpolitik und Berlin wollen eines, Lufthansa und die süddeutschen Passagiere etwas anderes.
C.M.: Dieser Flughafen zählt eben auch in Deutschland selbst zu den politisch heiklen Themen. Es ist ja die Lufthansa als deutsche Fluggesellschaft, die Zürich als Hub in ihrer Flughafen-Strategie aufführt – neben Frankfurt und München.
Viele deutsche Geschäftsreisende und Urlauber fliegen also via Zürich in die weite Welt hinaus. Lebt man aber im Südwesten Deutschlands, ist es unangenehm, wenn die lärmigen Flugzeuge ständig über die Köpfe brausen.
Ausser man fliegt grad selbst in die Ferien. Dann schätzt man die Nähe von Kloten wieder. Es ist schwierig, hier alle Deutschen zufrieden zu stellen.
swissinfo: Vermehrt versuchen die Deutschschweizer, sich wieder von ihrer Mundart ab- und der wenig geliebten Hochsprache zuzuwenden. Und jetzt soll ausgerechnet in Deutschland selbst eine Dialektwelle ausgebrochen sein?
C.M.: Den Deutschen gefällt der Schweizer Dialekt. Aber es ist richtig, in Deutschland nimmt neuerdings die Tendenz zu, zum Beispiel Messfeiern, Vorlesungen oder Männerstammtische auf Dialekt zu bestreiten.
Vor einigen Jahren noch galt in Deutschland das Sprechen von Dialekt als verpönt. Jetzt gibt es eine gewisse Retroentwicklung hin zur lokalen Sprachfärbung.
swissinfo: Ausgerechnet jetzt, wo in der Deutschschweiz sogar im Kindergarten die Schriftsprache wieder eingeführt werden soll?
Ch. M.: Also, ich befürchte kaum, dass in der Schweiz die Mundart ausstirbt. Meiner Ansicht nach hat die Mundart auf die Redegewandtheit nur wenig Einfluss – sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz.
swissinfo, Alexander Künzle, Lugano
Wer das Gefühl hat, heute sei die Schweiz von Deutschen «überschwemmt» wie noch nie, liegt falsch.
Anfang des 20. Jahrhunderts gab es absolut mehr Deutsche in der Schweiz als heute: Deutlich mehr als 200’000 – wobei damals die Schweiz nur halb so viele Einwohner hatte wie heute.
Am wenigsten Deutsche gab es 1950: Rund 50’000. Ungefähr gleich viele wie 1850 – 1860.
Zur Zeit machen die Deutschen in der Schweiz knapp 13% aller Ausländer aus.
Fast 60% aller Übernachtungen in der Schweiz werden von Ausländern gebucht.
Die ausländischen Gäste sind demnach als Gesamtgruppe wichtiger als die inländischen.
Unter den Ausländern halten wiederum die Deutschen einen Drittel. Sie sind die grösste Ausländergruppe unter den Touristen.
Andererseits wird Deutschland als Reiseziel für Schweizer immer attraktiver.
Das Land steht inzwischen an 1. Stelle der Schweizer Auslandreisen, noch vor Frankreich oder Italien.
24% aller Auslandreisen von Schweizern führen nach Deutschland.
Von den Pro-Kopf-Ausgaben her gesehen sind die Schweizer die Ausgabefreudigsten.
Deutschland und die Schweiz sind höchst verflochten: Sprache, Wirtschaft, Dienstleistungen, Bevölkerung und Tourismus.
Die Wachstumraten sind gross und konstant, sowohl beim Handel wie bei den Dienstleistungen und beidseitig beim Reisen.
2007 importierte die Schweiz insgesamt für 184 Mrd. Franken Waren; davon entfielen 62,2 Mrd. auf Waren aus Deutschland.
2007 exportierte die Schweiz insgesamt Waren für 197,4 Mrd., wovon 41,2 Mrd. nach Deutschland gingen.
Die Dienstleistungen machen bereits 40% des Handelsvolumens zwischen den beiden Ländern aus.
Deutschland nahm 2007 11,9 Mrd. Euro an Dienstleistungen mit der Schweiz ein, und gab 8,6 Mrd. Euro aus – ohne Reiseverkehr.
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