Diaspora will Haiti aus der Finsternis führen
Die rund 4000 Haitianerinnen und Haitianer in der Schweiz stehen ob der Erdbeben-Tragödie in ihrer Heimat unter Schock. Aber sie denken darüber nach, wie sie mithelfen können, das Land aus der jahrzehntelangen Misere zu führen.
Im Vordergrund stehen dabei Gespräche am Runden Tisch, die in der Hauptstadt Port-au-Prince stattfinden könnten. Tragischerweise könnte die Idee gerade durch den verheerenden Erdstoss Schub bekommen.
Angesichts der unterbrochenen Kommunikationswege haben die Mitglieder der haitianischen Gemeinde in der Schweiz nach wie vor nur sehr spärliche Nachrichten von Familienangehörigen, Freunden und Bekannten in der Heimat. Das Erdbeben zerstörte nicht nur die Hauptstadt, sondern auch den Westen und Süden der Insel.
Die wenigen Neuigkeiten, die durchsickern, stammen von der Diaspora in den USA, der wichtigsten ausserhalb der Insel.
Nachhaltige Konzepte gefragt
Am Samstag ist ein Treffen in Lausanne vorgesehen, bei dem die hiesigen Ausland-Haitianer ihr Leid teilen und Neuigkeiten austauschen können. Es geht auch um die Frage, wie sie ihrer Heimat am besten helfen können. Sie wollen aber mehr: Nämlich die Weichen für eine bessere Zukunft Haitis stellen.
Jean-Wilfrid Fils-Aimé, Sekretär des Klubs der Haitianer in der Schweiz, erachtet es im Moment für am Sinnvollsten, die Strukturen der Schweizerischen Katastrophenhilfe zu unterstützen. Insbesondere setzt er auch auf die Spendensammlung der Glückskette statt auf eigene Initiativen, die vor Ort nur schwerlich umzusetzen seien.
Aber nach der Phase der humanitären Nothilfe habe die Diaspora eine wichtige Rolle zu spielen, sagt Fils-Aimé, von Beruf Ingenieur. «Wir können das Land nicht dem Untergang überlassen. Die Diaspora muss die Richtung des Wiederaufbaus vorgeben.»
Dazu müssten die Kontakte in die USA und nach Kanada intensiviert werden, wo der Grossteil der Ausland-Haitianer lebt. Ohne das Geld, das die rund zwei Millionen in den letzten Jahren heimgeschickt haben, hätten die Menschen auf der Insel kaum überleben können, da 80% der Inselbewohner mit weniger als zwei Dollar pro Tag auskommen müssen.
Heimat am Tropf der Diaspora
2008 hatten die Ausland-Haitianer 1,8 Mrd. Dollar in die Heimat überwiesen, doppelt so viel wie die internationale Hilfe betrug. Die Summe, die wegen der Wirtschaftskrise schrumpfte, dürfte nach der Katastrophe von Dienstag wieder stark ansteigen.
Eine andere wichtige Person in der haitianischen Gemeinde in der Schweiz ist der Soziologe und Politiker Charles Ridoré. Im letzten Oktober hatte der ehemalige Verantwortliche des Fastenopfers Westschweiz in Port-au-Prince an einem Runden Tisch teilgenommen, bei dem die Teilnehmer die Beziehungen zwischen Diaspora und Heimat diskutierten.
Mit dabei sei auch Edwin Paraison gewesen, der seither zum Minister für die Diaspora ernannt wurde. «Er hat sich stark dafür ausgesprochen, dass die Haitianer im Ausland eine wichtigere Rolle spielen, berichtet Ridoré, der im Kanton Freiburg das Amt eines Regierungsstatthalters bekleidet.
Doppelbürgerschaft als Signal?
«Die Diaspora ist eine Art Milchkuh. Aber es gibt in Haiti auch Kreise, die ein stärkeres Engagement der Diaspora als hinderliche Konkurrenz empfinden würden», fährt er fort. Die Gespräche am Runden Tisch sollten solche Differenzen ausräumen. Ein Prozess, der durch das Erdbeben verstärkt werden könnte, hofft Ridoré.
Kürzlich räumte das haitianische Parlament eine Hürde aus dem Weg, indem es für Bürger im Ausland die Doppelbürgerschaft einführte. Dies erlaube es ihnen, sich ohne grössere administrativen Schikanen für die Heimat zu engagieren.
Auch Marie-Lourdes Desardouin befürwortet, dass die Diaspora mehr Verantwortung übernimmt. «Ich sehe am Beispiel meiner Tochter, dass es auch der jungen Generation wichtig ist, sich verstärkt zu engagieren.»
Die Pflegefachfrau Desardouin, die in der Genfer Gemeinde Vernier in der Exekutive sitzt, organisiert dort am Wochenende eine Solidaritätsveranstaltung zu Gunster ihrer Heimat. In deren Rahmen werden unter anderen junge Auslandhaitianer eine Hip-Hop-Vorführung bieten.
Leben von Tag zu Tag
Die Hilfe der Diaspora sei entscheidend für die Überlebenden, die beim Beben alles verloren hätten, inklusive ihre Häuser, betont Jean-Wilfrid Fils-Aimé. «Die wenigsten können sich eine Gebäudeversicherungen leisten. Wer eine hat, für den stellt sie oft der einzige Reichtum dar.»
Fils-Aimés Gattin Lorvelie ruft die Moral einer Bevölkerung in Erinnerung, die sich im Zustand des permanenten Überlebenskampfes befindet. «Die Mehrheit der Haitianer kann sich keine Gedanken um die Zukunft machen, weil es um die täglichen Bedürfnisse wie Essen, Gesundheit und Erziehung sehr schlimm steht. Die Menschen leben nur von Tag zu Tag», so Lorvelie Fils-Aimé.
Kein solidarischer Zusammenhalt
Dies zeigt sich laut Charles Ridoré besonders gravierend in Port-au-Prince. Die Hauptstadt habe eine Zuwanderung der Ärmsten Haitis erlebt, von Menschen, die ganz am Rand lebten. «Das wirkt sich auch auf moralische Werte aus. Die solidarischen Bindungen etwa sind gerissen.»
Der Soziologe fürchtet, dass die Verzweiflung der Menschen nach dem Erdbeben von Dienstag noch grösser wird. «Auf dem Land dagegen bleibt der Geist der gegenseitigen Hilfe lebhaft», schliesst er mit einem kleinen Lichtblick.
Frédéric Burnand, Genf, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Französischen: Renat Künzi)
Haiti ist eines der ärmsten Länder und belegt in der Liste des UNO-Index› zur menschlichen Entwicklung Platz 153.
Seit Jahren prägen gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Instabilität sowie mangelnde Sicherheit das Leben der Bewohner.
Weil die Menschen ums nackte Überleben kämpfen, ist Entwicklung kaum möglich.
Dazu kommen Naturkatastrophen in Form von Wirbelstürmen, Überschwemmungen oder Erdbeben.
Angesichts dieser desolaten Situation hat die Schweizerische Entwicklungsagentur Deza ihr Engagement in Haiti seit 2004 ausgebaut.
2006 eröffnete sie in Port-au-Prince ein Deza-Büro und betreibt seither ein humanitäres Sonderprogramm.
In den letzten Jahren engagierten sich Deza und Seco (Staatssekretariat für Wirtschaft) in Haiti mit rund 5 Mio. Franken (2007), 7 Mio. Fr. (2008) und 6,4 Mio. Fr. (2009).
Die Glückskette hat nach dem schweren Erdbeben in Haiti ein Spendenkonto eröffnet.
Spenden können auf das Postkonto 10-15000-6 mit Vermerk «Haiti» einbezahlt werden.
Die Organisation erklärte zudem den nächsten Donnerstag zum nationalen Sammeltag für Spenden.
Man bereite sich gemeinsam mit den Schweizer Partnerhilfswerken vor, in den kommenden Monaten Unterstützung von der Nothilfe bis zum Wiederaufbau zu leisten, teilte die Glückskette mit.
Haiti ist eines der ärmsten Länder in Amerika. Die Glückskette finanziert mehrere Hilfsprojekte in diesem Land.
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