«Die aktive Neutralität ist nichts Neues»
Die aktive Neutralität, wie sie Aussenministerin Micheline Calmy-Rey gegenüber dem Krieg in Libanon vertritt, entspricht genau der Schweizer Diplomatie, erklärt Edouard Brunner.
Der ehemalige Spitzendiplomat ist der Meinung, dass die Definition der Neutralität vielmehr die neue Situation berücksichtigen muss, dass heute oft Staaten bewaffneten Gruppen gegenüberstehen.
Der israelische Angriff auf Libanon mit dem Ziel, die Hisbollah-Milizen zu neutralisieren, hat in der Schweiz die Debatte über die Neutralität wieder angefacht. Die letzte Episode in dieser Sache: Ein Interview der Aussenministerin Micheline Calmy-Rey am Mittwoch in der Westschweizer Tageszeitung Le Temps.
In diesem Interview verteidigte Calmy-Rey einen aktiven Ansatz der Neutralität, der sich auf die Genfer Konventionen stützt, deren Depositärstaat die Schweiz ist.
«Im Falle von Verletzungen der Genfer Konventionen hat der Depositärstaat, der wir sind, die Pflicht, diese zu verurteilen», erklärte die Bundesrätin.
Im gleichen Interview bezeichnete Calmy-Rey den Krieg in Libanon als Konflikt zwischen zwei Staaten. Eine Meinung, die von den anderen Regierungsmitgliedern an ihrer ausserordentlichen Sitzung vom 26. Juli nicht geteilt wurde.
Bei diesem Krisentreffen hat die Landesregierung (Bundesrat) vom Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) einen Bericht zur Handhabung der Schweizer Neutralität im Nahost-Konflikt verlangt.
Edouard Brunner, früherer Schweizer Spitzendiplomat und Kenner des Nahen Ostens, im Gespräch.
swissinfo: Ist die aktive Neutralität, wie sie Micheline Calmy-Rey verteidigt, ein Bruch mit der Vergangenheit?
Edouard Brunner: Die aktive Neutralität ist nichts Neues. Die Schweiz hat immer schon eine aktive und solidarische Aussenpolitik vertreten. Während dem Kalten Krieg hat die Schweiz zu gewissen Ereignissen Position bezogen, indem sie diese verurteilt hat.
Beispielsweise die sowjetische Invasion in Ungarn, in der Tschechoslowakei oder in Afghanistan. Die Schweizer Diplomatie hat auch Regimes wie das der Apartheid in Südafrika verurteilt. Solche Positionsbezüge sind nicht unvereinbar mit der Neutralität.
swissinfo: Ist die derzeitige Debatte über die Neutralität nur formal oder berührt sie eine grundsätzliche Frage?
E.B.: Ich habe den Eindruck, dass die Mehrheit des Bundesrats sich lieber etwas weniger über ein derart heikles Thema wie den Nahen Osten äussern möchte.
Darum denke ich auch, dass das Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) den Konflikt nicht gewertet hat, sondern sich nur zur Frage der Einhaltung des internationalen humanitären Rechts, definiert durch die Genfer Konventionen, geäussert hat.
Und bei diesem Punkt gibt es keine Frage der Neutralität. Die Schweiz ist Depositärstaat dieser Konventionen. Sie hat daher das Recht, sich zu äussern.
swissinfo: In der Debatte um die Neutralität stehen sich zwei Lager gegenüber: Die einen sehen es als Konflikt zwischen zwei Staaten, die andern sagen, es sei ein asymmetrischer Konflikt zwischen einem Staat und einer bewaffneten Gruppe. Ihre Meinung?
E.B.: Dies ist kein zwischenstaatlicher Konflikt. Israel kämpft nicht gegen Libanon, sondern gegen die Hisbollah.
Auf jeden Fall gibt es heute kaum mehr zwischenstaatliche Konflikte. Sie wurden ersetzt durch Konflikte, bei denen Regierungstruppen gegen Aufständische, Abtrünnige oder Terroristen kämpfen.
swissinfo: Muss der Begriff nach dieser Entwicklung juristisch neu definiert werden?
E.B.: Es ist klar, dass eine Anpassung nötig ist in dieser neuen Situation, wo Staaten nicht mehr Staaten bekämpfen und niemand mehr offiziell den Krieg erklärt.
Beispiele sind die Bürgerkriege in Sri Lanka, in Kolumbien, sogar in Irak; oder die Konflikte in Afghanistan sowie Tschetschenien. Auch der Krieg zwischen Israel und der Hisbollah kommt in dieser neuen Gestalt daher.
Was diese Art von Konflikten betrifft, hat die Schweiz bereits betont, dass alle Parteien – Miliz oder Staat – die Menschenrechte respektieren müssen.
swissinfo: Ist die Debatte über die Neutralität in diesem Fall eine falsche Debatte?
E.B.: Tatsächlich hat die Kritik zugenommen, weil das EDA den Eindruck erweckt hat, nur über eine Seite zu urteilen, nämlich über Israel und nicht über die Hisbollah. Dies war sicherlich auch der Grund, warum sich die Schweizer Landesregierung letzte Woche bedeckt gehalten hat.
Gegenüber diesem Krieg kann die Schweiz nicht empfindungslos gegenüber dem Schicksal der Libanesen sein, die zu hunderten getötet werden. Doch sie muss sich auch um das Schicksal der Israelis kümmern, die unter dem Raketenbeschuss der Hisbollah leiden.
Am Anfang des Konflikts fehlte der Schweizer Position das Gleichgewicht. Das war jedoch nicht wegen Micheline Calmy-Rey, sondern wegen ihrem Pressesprecher. Und darum ist die Frage der Neutralität nun wieder aufgetaucht.
swissinfo-Interview: Frédéric Burnand
(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
Der pensionierte Diplomat Edouard Brunner wurde 1932 in Bern geboren. Er hat Jura an der Universität Genf studiert.
Von 1956 bis 1997 arbeitete er im Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA), namentlich als Staatssekretär und als Schweizer Botschafter in Washington und Paris sowie als UNO-Beobachter für die Schweiz.
1991 wurde er Sondergesandter der UNO für den Nahen Osten, 1994 Sondergesandter des UNO-Generalsekretärs für Georgien und Abchasien.
2002 veröffentlichte Brunner seine Autobiographie unter dem Titel «Lambris Dorés et Coulisses».
Die immerwährende Neutralität der Eidgenossenschaft geht zurück auf die Schlacht bei Marignano in Italien (1515), die sie gegen die Franzosen verloren hatte. Dies markierte das Ende der Militärpolitik der alten helvetischen Konföderation.
Am 20. November 1815 anerkannten die Vertragsstaaten des Wiener Kongresses die Neutralität der Schweiz.
Neutralität bedeutet im Bereich der Staatenwelt die Nichtbeteiligung an einem bewaffneten Konflikt zwischen anderen Staaten.
Die schweizerische Neutralität kennzeichnen heute drei Merkmale: sie ist selbst gewählt, dauernd (nicht mehr immerwährend) und bewaffnet.
1993 sagte sich der Bundesrat (Landesregierung) los vom Prinzip der «integralen» Neutralität. Seither kann die Schweiz auch multilaterale wirtschaftliche und sogar militärische Zwangsmassnahmen ergreifen.
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