Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Die Lehren aus der Affäre Dutroux

1. Tag im Kinderschänder-Prozess Dutroux. Keystone

Am Montag hat in Belgien der Prozess rund um den Kinderschänder Dutroux begonnen. Die Affäre hat Europa und die Schweiz veranlasst, sich besser gegen Pädo-Kriminelle und ihre Ringe zu schützen.

Noch bleibt aber viel zu tun, auch in der Schweiz.

Der Prozess gegen den Kinderschänder Marc Dutroux und seine drei mutmasslichen Komplizen ist am Montag in Arlon in Belgien eröffnet worden.

Dem Hauptangeklagten wird die Entführung von sechs, der Missbrauch und die Tötung von vier minderjährigen Mädchen angelastet. Dazu kommen der Mord an einem Komplizen, Vergewaltigungen sowie Drogenhandel und Bandenbildung.

Im Sommer 1996 waren seine kriminellen Taten aufgeflogen.

Die Affäre Dutroux hat die Gemüter in ganz Europa stark bewegt. Deshalb haben für den Prozess rund 1300 Journalisten aus der ganzen Welt eine Akkreditierung eingereicht.

Auch in der Schweiz führte die Affäre zu einem nachhaltigen Prozess der Sensibilisierung.

Vom kriminellen Porno-Ring zum Pädo-Konsum

Während bei Dutroux Mord und der Verdacht auf organisiertes Verbrechen im Vordergrund stehen, ist seit der Festnahme in Belgien 1996 mit der Verbreitung des Internets die Pädo-Kriminalität auch für weite Kreise zugänglich und damit sichtbar geworden.

Hier bleibt die Gesetzgebung unklar. Die legale Basis sei gegenwärtig noch zu wenig klar und erlaube es weder, Pädo-Kriminelle dingfest zu machen, noch sie zu bestrafen, erklärt Pascal Seeger, ehemaliger Kriminalpolizist.

So arbeiteten im Kanton Bern 1998 noch zwei Halbtagsangestellte bei der Abteilung Cyber-Kriminalität, heute sind es neun. In Genf sind heute sechs Personen damit beschäftigt.

Doch Seeger, ein ehemaliger Inspektor der Kriminalpolizei Genf, wo er beim Ausschuss für Informatik-Kriminalität mitverantwortlich war, gibt sich verhalten kritisch: «Im Kampf gegen die Cyber-Pädokriminalität hat sich seit der Affäre Dutroux keine starke Verbesserung ergeben.»

Von der Polizei zu einer NGO

In Bern sei zwar das Personal aufgestockt worden. «Aber leider begnügen sich die Mitarbeiter damit, angezeigte Fälle zu bearbeiten. Es fehlt ihnen die Zeit, selber nach pädophilen Websites zu suchen.»

Seeger selbst verliess die Polizei, «weil man uns nicht genügend Mittel zu Verfügung stellte».

Er glaubt ausserdem, dass die Sparanstrengungen des Bundes wohl auch nicht dabei helfen werden, Pädophile besser stellen zu können. «Deshalb arbeite ich jetzt bei der Nichtregierungs-Organisation ‹action innocence›.»

Seeger ortet Probleme im Föderalismus. «Die Kantone finden, es sei Bundessache, und der Bund sagt, er hätte zu wenig Mittel. Das ist schade, denn Deutschland und Frankreich haben Aktionszellen zustande gebracht, die gut arbeiten.»

Demgegenüber hält Guido Balmer vom Bundesamt für Polizei (fedpol) fest, dass «rund eine Million Franken in funktionierende Software investiert wurde, um Cyber-Kriminalität zu bekämpfen». Die Strafverfolgung selber erfolgte zwar prinzipiell immer in den Kantonen, und fedpol sorge für die notwendige interkantonale und internationale Vernetzung.

«Genesis» und Namensliste beim Lehrpersonal

Die Affäre Dutroux wirkte wie eine Bombe, deren Wellen weit über Belgien hinaus reichten. Es kamen weitere Affäre zum Vorschein, kein Land wurde verschont, auch die Kirche nicht, auch das Schulwesen nicht.

In ganz Europa wurden weisse Märsche (Marches Blanches) organisiert. Auch in Bern waren Massnahmen angesagt, wie die Einheit der Informatik-Polizei.

Dank der Polizeiaktion «Genesis», als international vernetzte Aktion gegen die Cyber-Kriminalität, konnte die Schweizer Polizei 800 Konsumenten von Kinderpornografie überführen, darunter auch Lehrer.

Nun haben neu seit Januar 2004 die kantonalen Erziehungsdepartemente die Möglichkeit, dem Generalsekretariat der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) die Namen von Lehrpersonen zu melden, denen in einem kantonalen Verfahren die Unterrichtsbefugnis entzogen worden war.

Die Schulbehörden seien verpflichtet, so der Pressedienst des Generalsekretariats, sich bei der Anstellung von Lehrpersonen über das Vorhandensein der Unterrichtsbefugnis zu vergewissern.

Föderalismus als Komplikation

Das Erziehungswesen in der Schweiz ist streng föderalistisch organisiert. Die EDK ihrerseits basiert auf interkantonalem Recht, ist aber mit ihren Bemühungen davon abhängig, dass die einzelnen Kantone fehlbare Lehrpersonen auch melden.

Im Kanton Freiburg hatte sich ein solcher Fall ereignet. «Wir hatten eine Lehrperson, die im Sommer 2002 pädophile Handlungen beging», sagt Michel Perriard, Sekretär der Freiburger Erziehungsdirektion, zu swissinfo.

Im Kanton wurde der Person daraufhin die Unterrichtsbefugnis entzogen. «Wie aber verhindern, dass in einem föderalistischen System solche Leute nicht einfach einen Kanton weitergehen?», fragt Perriard. Deshalb sei innerhalb der EDK im September 2003 eine entsprechende «Schwarze Liste» vorgeschlagen worden.

Und die katholische Kirche?

«Wenn gewisse Priester pädophile Akte begangen haben, mussten und müssen sie sich vor Gericht verantworten», hält Marc Aellen von der Schweizerischen Bischofskonferenz gegenüber swissinfo fest.

«Sie sind dann auch von kirchenrechtlichen Sanktionen betroffen.» Nur sollte man nicht, so Aellen, jetzt alle zusammen in den gleichen Topf werfen.

Gegen den Vorwurf, dass in der katholischen Kirche diesbezüglich lange das Schweigen vorherrschte, wehrt sich Aellen. Gelegentliche Informations-Defizite seien sicher vorgekommen, doch könne die Kirche nicht die Justiz ersetzen.

swissinfo, Alexander Künzle

Die Affäre Dutroux hat seit 1996 auch in der Schweiz zu einem nachhaltigen Prozess der Sensibilisierung in Sachen Pädo-Kriminalität und Pädophilie geführt.

Seit 1996 ermöglicht das Internet leichteren Zugang zum Pädo-Konsum.

Die Gesetzeslage betreffend Pädo-Konsum ist noch unklar.

Inzwischen existiert eine «Schwarze Liste» von Lehrpersonal, dem die Unterrichtsbefugnis entzogen wurde – auch wegen pädophilen Verfehlungen.

9. August 1996: Eine Zeugin in Belgien sieht bei einer Entführung einen weissen Lieferwagen, der auf den Namen Marc Dutroux angemeldet ist.
13. August 1996: Dutroux, seine Frau und ein Komplize werden verhaftet.
15. August 1996: Zwei Mädchen werden aus einem Keller befreit.
17. August 1996: Die Polizei findet Leichen von Misshandelten.
1. März 2004: Beginn der Prozess gegen den Kinderschänder Marc Dutroux.
Anklage: Entführung von sechs, Missbrauch und Tötung von vier Minderjährigen; Mord an einem Komplizen, Vergewaltigung, Drogenhandel, Bandenbildung.

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft