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Die Masse bewegt sich

Kinder feiern Neujahr. Christian Binz

In China hat das neue Jahr eben erst begonnen. Viele Leute in der Schweiz haben vom chinesischen Neujahrsfest zwar schon gehört, ahnen aber kaum, dass sich dahinter eine gigantische Völkerwanderung und das wohl lauteste Fest der Welt verbirgt.

Das chinesische Neujahrsfest 春节(Chunjie) stürzt Jahr für Jahr einen Fünftel der Menschheit in kollektive Euphorie und Chaos und kündigt sich in Beijing schon Wochen im Voraus an.

Die Strassen sind zunehmend von gut gelaunten Leuten mit Rollkoffern bevölkert, und in der Metro bahnen sich Wanderarbeiter mit dicken Kartons voller Geschenke den Weg in Richtung Bahnhof. Alle wollen sie zurück zu ihren Eltern und Familien, die oft Tagesreisen entfernt im Hinterland leben.

Die Themen beim Lunch drehen sich also plötzlich vermehrt darum, wie man auf halblegalem Weg schon früh im Voraus zu einem Bahnticket kommen könnte. Denn wer sich sein Ticket nicht vorzeitig organisieren kann, muss es sich an einem Bahnschalter gegen 500 Millionen Mitstreiter sprichwörtlich erkämpfen.

Weihnachtsessen mal anders

Auch am Arbeitsplatz ist man vor dem Neujahr fieberhaft daran, die letzten Projekte abzuschliessen, und gleichzeitig häufen sich die Chunjie-Feste mit den Arbeitskollegen.

Die Ähnlichkeiten mit den in der Schweiz gängigen Festessen am Jahresende sind allerdings beschränkt. Feste haben in China grundsätzlich «renao», also «heiss und laut» zu sein.

Meine Forschungsgruppe und unsere Professoren treffen sich daher in einem Karaoke-Etablissement zu einem umfassenden Unterhaltungsprogramm mit Tanzeinlagen, feucht-fröhlichem Gesang und Klassikern von Kindergeburtstagsfesten, z.B. gegenseitig am Fuss befestigte Ballone zertrampeln.

Die Ruhe vor dem Sturm

Kurz vor dem Neujahr sind dann plötzlich alle verschwunden, und in Beijing macht sich gespenstische Ruhe breit. Auch mein Forschungsinstitut ist komplett leergefegt: Nur ein befreundeter Holländer und die Wachen am Eingangstor streifen noch einsam durch den Campus.

Nach und nach schliessen auch alle Restaurants und Läden in der Nachbarschaft, so dass plötzlich nur noch Fertignudeln mein Überleben sichern. Meine Kollegen und Kolleginnen sind schon lange zu ihren Familien gereist, zurückgelassen haben sie mir nur einen Goldfisch in einer kleinen Vase und eine Orchidee, um die ich mich jetzt kümmern muss.

Monster vertreiben

Am 3. Februar um Mitternacht beginnt dann das neue Jahr. Pünktlich zum Jahreswechsel macht sich nianshou (年兽), das mystische Neujahrsmonster, auf, um seinen Appetit auf frisches Menschenfleisch zu stillen.

Feuer, rote Farbe und vor allem lautes Knallen sind laut uralten Überlieferungen die einzigen wirksamen Abschreckungsmittel.

Tatsächlich: Die etwa 7 Millionen in Beijing Gebliebenen zünden synchron ihr Feuerwerk, als ginge es um Leben und Tod. Das Donnergrollen in der Stadt ist so ohrenbetäubend, dass man sein eigenes Wort nicht versteht, und für 15 Minuten herrscht in den Strassen komplette Feuerwerksanarchie.

Mitunter geht dabei im allgemeinen Trubel auch mal ein ganzes Gebäude in Flammen auf. Vor zwei Jahren traf es ausgerechnet ein Nebengebäude der CCTV Towers, einer prestigeträchtigen Konstruktion von Stararchitekt Rem Koolhaas. Bis heute steht nun ein völlig verkohltes Hochhaus im Schatten des gewaltigen Hauptsitzes des Chinesischen Staatsfernsehens.

Die Beijinger nehmen es mit einem Schulterzucken zur Kenntnis: Zumindest war das brennende Hochhaus damals der denkbar wirksamste Schutz gegen das Neujahrsmonster.

Essen und Feiern

Die restlichen zwei Wochen verbringt man in Beijing dann damit, der «Familie entlang zu spazieren» und ausgiebig zu essen. Auch Ausländer werden in dieser Zeit oft mit warmherziger Freude in die Familienfeste integriert.

Der absolute Klassiker dabei ist das Einrollen von jiaozi (饺子), von handgemachten Ravioli. Die Einrolltechnik will gelernt sein: Unbeholfene Ausländer sorgen in der Regel für die erwartete Belustigung – und ungeniessbare Ravioli.

Nach dem Essen gehen die Feierlichkeiten traditionellerweise in Tempelfesten weiter. Viele Tempel und Parks Beijings verwandeln sich während Chunjie in unvorstellbar dicht bevölkerte Jahrmärkte, wo für teures Geld und verbunden mit vielfältigen Ritualen Glück, Gesundheit und vor allem künftiger Erfolg und Reichtum an den Mann und die Frau gebracht werden.

Wichtige Hinweise für alle Hasen

In China steht jedes Jahr ganz im Zeichen eines Tieres, das neue Jahr im Zeichen des Hasen. Sind sie ein Hase, also 1939, 1951, 1963, 1975, 1987 oder 1999 geboren? Dann droht Ihnen grosses Unheil.

Zur Sicherheit sollten sie also für den Rest des Jahres unbedingt immer etwas Rotes am Leibe tragen. Und waren Sie erst kürzlich beim Coiffeur? Dumm gelaufen! Dann haben Sie sich soeben das Glück fürs ganze kommende Jahr abgeschnitten.

Immer häufiger reisen auch junge Leute für längere Zeit ins Ausland, sei das zum Studieren, Forschen, für ein Stage oder zum Arbeiten.

Zu ihnen gehört auch Christian Binz, der gegenwärtig in Beijing forscht. 

Bis im Sommer 2011 berichtet er für swissinfo.ch über seine Erfahrungen und Beobachtungen in Beijing.

Christian Binz ist 27 Jahre alt. Er hat an der Universität Bern Geographie mit den Nebenfächern Volkswirtschaft, Philosophie und Chinesisch studiert.

Für seine Masterarbeit untersuchte er das chinesische Innovationssystem für dezentrale Wasserrecycling-Technologie.

Aus dieser Arbeit entwickelte sich seine Doktorarbeit, ein Kooperationsprojekt zwischen der Eawag (Wasserforschungsinstitut an der ETH) und der Chinesischen Akademie der Wissenschaften.

Seit September 2010 lebt er in Peking und arbeitet für sein Projekt, das untersucht, ob China in seinem urbanen Wassermanagement zu nachhaltigeren Lösungen finden könnte.

Christian Binz war insgesamt schon fünfmal in China und hat weite Teile des Landes bereist.

Nebst Reisen ist sein grösstes Hobby die Musik, insbesondere seine Band Karsumpu, wo er Mundharmonika, Piano und diverse «Binztrumente» spielt (www.karsumpu.ch).

Nebenbei ist er begeisterter Filmer, Sportler und Hochseesegler.

Nebst seiner Muttersprache Deutsch spricht er Englisch, Italienisch, Französisch und Chinesisch.

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