Die neue Hauptrolle der Carla del Ponte
"La Liste de Carla": Erstmals dokumentiert ein Film die Tätigkeit der Schweizer Chefermittlerin des UNO-Kriegsverbrecher-Tribunals in Den Haag.
Die Probleme, Kriegsverbrecher im ehemaligen Jugoslawien zur Rechenschaft zu ziehen, prägten auch die Diskussion nach der Uraufführung am Filmfestival Locarno.
«Die ersten fünf Minuten war ich nur schockiert, ich fand diese Frau im Film unsympathisch und hässlich. Doch am Ende war ich begeistert»: So beschreibt Carla del Ponte, die Chefanklägerin des UNO-Kriegsverbrechertribunals für das ehemalige Jugoslawien, ihre Eindrücke und Gefühle am Sonntag. Tags zuvor war der Dokumentarfilm «La liste de Carla» (Carlas Liste) auf der Piazza Grande uraufgeführt worden.
Im Film des Schweizer Regisseurs Marcel Schüpbach spielt die Tessinerin die Hauptrolle. Doch für einmal nicht im Gerichtssaal, sondern auf der Leinwand.
Anstossen in der Luft
Der Filmemacher hat Carla del Ponte im Jahr 2005 während sechs Monaten begleitet, vor allem bei ihren Bemühungen für die Verhaftung der letzten noch flüchtigen Kriegsverbrecher Ratko Mladic, Radovan Karadzic und Ante Gotovina.
Die Verhaftung des kroatischen Ex-Generals Gotovina erfolgte im Dezember 2005 in Spanien. Als die Nachricht übermittelt wird, ist das Filmteam zufällig in der Nähe der Chefanklägerin. Im Flugzeug stösst sie mit ihren engsten Mitarbeitern und Champagner auf diese «gute Nachricht» an.
Euer Ehren ungeschminkt
Nach der Premiere stellte Carla del Ponte vor den Medien klar, dass sie keinerlei schauspielerische Ambitionen hegt. «Es ist reine Dokumentation, wir haben keine Szenen gestellt, keine Schminke verwendet», sagten die Chefanklägerin und der Regisseur im Chor.
Dass Del Ponte diesem ungewöhnlichen Projekt überhaupt zugestimmt und über Monate eine Filmkamera in ihrer Nähe geduldet hatte, erklärte sie mit ihrem Auftrag. «In einem Moment, in dem die Zustimmung für internationale Gerichtsbarkeit etwas abflaut, hilft dieser Film möglicherweise, wieder mehr Öffentlichkeit zu schaffen.»
Im Film wechseln Szenen zwischen der eher kühlen Ermittlungsarbeit der Chefanklägerin und ihren Bemühungen auf höchster diplomatischer Ebene mit hochemotionalen Aussagen und Bildern von Frauen, die bei Massaker von Srebrenica ihre Männer oder Söhne verloren haben.
Zweifel am Tribunal
Bei diesen Frauen werden teilweise grosse Zweifel laut, ob die internationale Gerichtsbarkeit je Gerechtigkeit für das begangene Unrecht wird schaffen können. Schon elf Jahre ist das Massaker von Srebrenica her. Die Arbeit des Kriegsverbrechertribunals geht jedoch ihrem Ende entgegen.
«Ich kann die Wut dieser Frauen auf mich gut verstehen, wenn zwei Haupttäter immer noch nicht gefasst sind», räumte Carla del Ponte ein. Sie verwies aber darauf, dass sie ohne die aktive Mithilfe der Internationalen Staatengemeinschaft wenig ausrichten könne: «Mir steht ja keine eigene Polizei zur Verfügung.»
Auch wenn ihr Mandat in 14 Monaten, im September 2007, ausläuft, hat del Ponte die Hoffnung nicht aufgegeben, Ratko Mladic und Radovan Karadzic zu fassen. Aber sie räumt ein: «Die Zeit wird sehr knapp.» Die Arbeit des Tribunals wird noch bis 2010 fortgesetzt.
Nationalstaaten in der Verantwortung
Was danach passiert, ist ungewiss. Dann müssen sich die nationalen Rechtssprechungen neben den vielen kleinen Fällen auch um die letzten grossen Kriegsverbrecher kümmern. Ob dies gelingen wird, bleibt fraglich.
Wie kompliziert die Strafverfolgung schon jetzt ist, zeigten bei einer Podiumsdiskussion in Locarno die Staatsanwälte Marinko Jurcevic (Bosnien-Herzegowina) sowie Mladen Bajic (Kroatien) auf. Allein in Kroatien sind 1000 Fälle aus den Kriegszeiten hängig, doch 80% der verantwortlichen Personen leben in Serbien.
In Bosnien-Herzegowina gibt es gar 13’000 Personen, die in Zusammenhang mit Kriegsverbrechen aktenkundig sind, und ebenfalls meist im Ausland – in Serbien – leben. Die Auslieferung dieser Personen durch Serbien ist aber unwahrscheinlich.
swissinfo, Gerhard Lob, Locarno
Carla del Ponte wird am 9.Februar 1947 im Tessin geboren
Studium der Rechtswissenschaften in Bern, Genf sowie in England
Von 1972 bis 1981 Rechtsanwältin in Lugano
Von 1981 bis 1994 Staatsanwältin des Kantons Tessin mit den Schwerpunkten Geldwäsche, Organisierte Kriminalität, Drogen, Waffenschmuggel
1989 entgeht sie am Ferienhaus des italienischen Mafiajägers Giovanni Falcone nur knapp einem Anschlag
1994 bis 1999: Bundesanwältin in Bern
Seit 1999: Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag
September 2007: Mandatsende
Das UNO-Kriegsverbrechertribunal (ICTY) für das ehemalige Jugoslawien hat einzig Befugnis, hohe Funktionäre und Militärs zur Rechenschaft zu ziehen.
Das Massaker von Srebrenica in Bosnien, bei dem im Juli 1995 rund 8000 muslimischen Männern umgebracht wurden, gilt als schlimmstes Kriegsverbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Es ist als Völkermord klassifiziert. Die Täter waren bosnische Serben.
In Den Haag wurden bis jetzt rund 160 Anklagen verfasst, es gab 50 definitive Schuldsprüche, 47 Personen befinden sich noch im Gefängnis. Radovan Karadzic und Ratko Mladic werden immer noch gesucht.
Der frühere jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic starb im März 2006 in UNO-Haft in Den Haag nur wenige Monate vor einer Urteilsverkündigung.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch