Die Ratten von Strassburg
In den Flüssen Strassburgs herrscht nicht immer Eintracht. Ab und zu geraten Wassertiere aneinander. Angesichts der immensen Schwan- und Ratten-Population ist das kein Wunder. Als Querulantin gilt die Bisamratte, die auch in der Schweiz unerwünscht ist.
Wenn die Bisamratte auf feindlichen Kontakt stösst, schlägt sie in kurzen Abständen die Schneidezähne aufeinander und verbreitet einen furchteinflössenden Laut.
Wer nachts an den Gestaden der Gewässer Strassburgs schlendert, kann gelegentlich mit diesem fremdartigen Geräusch konfrontiert werden. Etwa wenn die Bisam auf den Schwan trifft, der sich unter einer Brücke einen gemütlichen Schlafplatz eingerichtet hat und erbittert sein Revier verteidigt.
Auch wenn sich die Wassertiere ihr Revier im Normalfall brüderlich teilen, sind solche ungemütlichen Zwischenfälle keine Seltenheit. Konflikte sind nicht auszuschliessen, genauso wie im Plenarsaal des europäischen Parlaments, das in Rattennähe an den Gestaden der «Ill» liegt.
Tatsächlich weist Strassburg nicht nur einen Überschuss an Europa-Abgeordneten und Studenten auf, sondern beherbergt auch grosse Populationen an Störchen (das Wappentier der Stadt), Schwänen, Biber- und Bisamratten.
Lebensraum für Strassburgs Flusstiere
Der Fluss namens Ill teilt sich beim Stadteingang auf, um den historischen Teil der Stadt schützend zu umfliessen. Die Wasserratten wagen sich oft nur nachts in dieses von malerischen Fachwerkhäusern umgebene Wasser, da es tagsüber im Halbstundentakt von den Schrauben der Touristenboote aufgewirbelt wird. Sie bevorzugen kleinere Seitenflüsse sowie die grossflächigen «Bassins», die Strassburg mit dem nahegelegenen Rhein verbinden.
Dort versammeln sich auch unvorstellbar grosse Schwan-Gemeinschaften: Abends sitzen die stolzen Tiere am Ufer, putzen sich die Flügel, schwimmen bedächtig auf dem teerigen Wasser umher und scheinen auf den Anfang des Tagesrapports zu warten.
Es ist fragwürdig, warum sich der als Einzelgänger bekannte Schwan in Strassburg als Gesellschaftstier entpuppt. Etwa zum Schutz vor den aufmüpfigen Ratten?
Ratte ist nicht gleich Ratte
Der Rattenbestand Strassburgs muss an dieser Stelle differenziert betrachtet werden. Die Unterschiede zwischen Biber- und Bisamratte könnten nicht vielschichtiger sein.
Die Biberratte, auch als Nutria bekannt, ist ein friedlicher und angepasster Zeitgenosse. Sie kann, rechnet man den Schwanz mit ein, über einen Meter lang werden.
In Strassburg profitiert die aus Südamerika eingewanderte Biberratte vom feuchten, beinahe subtropischen Klima. Sie ist auch tagsüber aktiv, lässt sich von Menschen mit Gemüse füttern und trocknet ihren Pelz an heiteren Tagen an der Sonne.
Ganz anders die Bisam: Sie leidet darunter, ständig mit der süssen Biberratte verwechselt zu werden. Die Bisamratte wird in vielen Gebieten als Schädling kategorisiert, weil sie die Lebensräume anderer, schwächerer Tiere beeinträchtigt und massive ökonomische Schäden hinterlässt.
Die Bisam ist bedeutend kleiner als die Biberratte und bewegt sich vorwiegend im Schatten der Dämmerung und in der Nacht.
Ins Gebiet der Ill und des Niederrheins soll sie 1930 als Flüchtling eingedrungen sein, als im französischen Belfort gegen 500 Bisamratten der Gefangenschaft einer Zuchtanlage entflohen (der Pelz des Tieres war in der Pelzindustrie eine beliebte Ware).
Kein Krieg der Ratten
Strassburgs Geschichte ist gezeichnet von blutigen Auseinandersetzungen, etwa vom notorischen deutsch-französichen Tauziehen um Elsass-Lothringen.
Es wäre jedoch vermessen, das Aufeinandertreffen zwischen Biber- und Bisamratten als neuen Krieg heraufzubeschwören.
Obwohl die beiden Kontrahenten Gut und Böse symbolisieren, liefern sie sich kein episches Duell wie die Kobra mit dem flinken Mungo. Vielmehr ist bewiesen, dass Biberratten ihr Revier gegenüber Bisamratten zu verteidigen wissen und diese langfristig sogar verdrängen.
Bald schon in der Schweiz
In der Schweiz wurde die Bisamratte in den 1980er-Jahren als unerwünschte Immigrantin zur Jagd freigegeben. Dennoch tauchen die Tiere nur vereinzelt in den Schweizer Gewässern auf. Das könnte sich angesichts der ungebrochenen Wanderlust der Bisam wieder ändern.
Ausgerechnet jetzt, in Zeiten wiederkehrender Migrationsdebatten, ist nicht auszuschliessen, dass die ungestüme Bisamratte in naher Zukunft auch in der Schweiz neue Diskussionen auslösen wird.
Die Frage sei schon heute erlaubt: Sollen Bisam-Camps konsequent geräumt werden oder kann man den Tieren ohne Vorbehalt den Schweizer Pass überreichen?
Immer häufiger reisen auch junge Leute für längere Zeit ins Ausland, sei das zum Studieren, Forschen, für ein Stage oder zum Arbeiten.
Zu ihnen gehört auch Jonas Dunkel, der von August 2010 bis Januar 2011 für swissinfo.ch über seine Erfahrungen und Beobachtungen in Strassburg berichtet.
Jonas Dunkel ist am 23. September 1981 in Vevey, Kanton Waadt, geboren.
Nach den Schulen studierte er an der Universität Freiburg Medien- und Kommunikations-Wissenschaft sowie Journalismus.
2009 schloss er das Studium mit einer Lizentiats-Arbeit über die narrative Entmythologisierung in den Frühwerken des Film-Regisseurs Jean-Luc Godard ab.
Im Winter 2010 folgt ein dreimonatiges Praktikum in der Multimedia-Redaktion des europäischen Kulturkanals ARTE in Strassburg.
Seit August ist er als Stellvertretung wieder in der Multimedia-Redaktion von ARTE tätig.
Zu seinen Hobbys gehören Fussball, Segeln, Tennis, Radsport, Literatur, Film und Geschichte.
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