Die Schweiz will nicht länger für den «Sterbetourismus» zahlen
Nach einer Suizidbegleitung fällt in der Schweiz ein erheblicher Untersuchungsaufwand an. Der Kanton Solothurn hat nun einen Weg gefunden, die Kosten auf Sterbewillige aus dem Ausland abzuwälzen. Und: Sie müssen sich beim Suizid filmen.
Das Kamerabild zeigt eine Person auf einem Bett. Sie streckt ihre Hand nach einer Infusion aus, dreht an einem Rädchen. Schon strömt die tödliche Dosis Natrium-Pentobarbital ins Blut.
Solche Videos sind der Kern einer in der Schweiz bisher beispiellosen Vereinbarung, die der Kanton Solothurn und die Sterbehilfeorganisation Pegasos getroffen haben: Liefert Pegasos den Video-Beleg, dass der Suizid selbst ausgeführt wurde und dazu weitere Informationen an die Behörden, verzichten diese auf das übliche bei einem assistierten Suizid ausgelöste Aufgebot.
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Statt dass Staatsanwaltschaft, Rechtsmedizin und Polizei an den Suizidort ausrücken, wird der Leichnam in den nahen Kanton Basel-Stadt überführt und vom dortigen rechtsmedizinischen Institut untersucht.
Das senkt die Kosten, auf 1000 bis 2000 Franken pro Fall. Und: Diese Kosten werden von der Sterbehilfeorganisation und damit letztlich von der sterbewilligen Person selbst getragen.
Laut Pegasos fliessen sie in die Gesamtkosten der Freitodbegleitung ein, die wie bei anderen einschlägigen Organisationen in der Schweiz rund 10’000 Franken pro Person betragen.
Trauer ohne Behördenunterbrechung
Der Kanton Solothurn wird durch die Vereinbarung, die seit Dezember in Kraft ist, auf einen Schlag hohe Aufwendungen los. Um die 3000 Franken kostete ihn zuvor jeder einzelne begleitete Suizid einer im Ausland wohnhaften Personen.
«Wir erhalten ein besseres Beweisresultat. Gleichzeitig entlasten wir die Staatskasse und schonen die Personalressourcen», resümiert der Solothurner Oberstaatsanwalt Hansjürg Brodbeck. Dabei behält sich Solothurn das Recht auf Stichproben vor.
Pegasos sieht die Vorteile vor allem in einem würdigeren Rahmen für die Angehörigen. Der Abschieds- und Trauerprozess werde nun nicht mehr durch das Auftauchen von Strafuntersuchungsbehörden durchbrochen, schreibt die Organisation auf Anfrage. «Das hat die Privatsphäre in einem intimen Moment gestört. Familie und Freunde mussten jeweils warten, bis die offiziellen Amtshandlungen abgeschlossen waren.»
Verdoppelung der Suizidhilfe prognostiziert
Das Solothurner Modell hat in der Schweiz viel Aufmerksamkeit erregt. Denn auch andere Kantone bleiben auf den Untersuchungskosten sitzen und sehen ihre personellen Ressourcen strapaziert.
Über 1700 assistierte Suizide gab es in der Schweiz zuletzt pro Jahr, davon entfiel rund ein Drittel auf Personen, die nur zu diesem Zweck in die Schweiz gereist waren. Die Zahlen nehmen seit Jahren zu. Bis 2035 rechnen Beobachter:innen mindestens mit einer Verdoppelung.
Schon in der Vergangenheit haben Kantone versucht, die Kosten der Sterbehilfe loszuwerden. Doch sie sind alle gescheitert, weil die Untersuchungspflichten in der Schweizer StrafprozessordnungExterner Link, also auf Bundesebene, geregelt sind. Nach gängiger Auslegung handelt es sich bei einem assistierten Suizid um einen aussergewöhnlichen Todesfall, der von Amtes wegen untersucht werden muss.
Unterdessen haben mehrere Kantone ihren Untersuchungsaufwand reduziert, zum Teil ebenfalls in Absprache mit den Sterbehilfeorganisationen. Was das Solothurner Modell einzigartig macht, ist die freiwillige Kostenübernahme durch Pegasos.
Braucht es eine «dritte Todesart»?
Aus Sicht vieler Sterbehilfeorganisationen ist das allerdings keine echte Lösung, weil es für sie die Sterbehilfe verteuert.
So plädiert Exit Deutsche Schweiz, die grösste Sterbehilfeorganisation des Landes, dafür, den assistierten Suizid als eine Sonderkategorie des aussergewöhnlichen Todesfalls aufzufassen.
Ebenso Erika Preisig, Präsidentin der Sterbehilfeorganisation Lifecircle. «Die Kriminalisierung der friedlichen Art des Sterbens mit polizeilichen Abklärungen muss aufhören», sagt sie. «Die Kosten, die dadurch entstehen, sind unnötig.»
Auch Lifecircle filmt die Sterbewilligen beim Suizid. Die Todesursache sei dadurch absolut klar, so Preisig. «Unser Ziel ist es, dass die Behörden eine weitere Todesart akzeptieren.»
In Belgien ein «natürlicher Tod»
Belgien, nach der Schweiz die zweitwichtigste Destination für Sterbewillige aus dem Ausland, insbesondere Frankreich, hat mit dem Sterbehilfegesetz von 2002 festgelegt, dass es sich bei der Sterbehilfe um einen natürlichen Tod handelt.
«Das geschah hauptsächlich im Hinblick auf Versicherungsverträge», erklärt Jacqueline Herremans, Anwältin und Präsidentin der Association pour le Droit de Mourir dans la Dignité Belgium, dieses Unikum. «Es ist tatsächlich der Vermerk, den der Arzt auf der Sterbeurkunde eintragen muss.»
Die Kontrolle über die Suizidhilfe – die in Belgien im Gegensatz zur Schweiz in der Regel eine aktive ist, das heisst, eine Ärztin oder ein Arzt verabreicht die tödliche Infusion – obliegt einer vom Parlament gewählten Ethikkommission, bestehend aus acht Ärzten, vier Juristinnen und vier Personen, die Erfahrung im Umgang mit unheilbar kranken Personen nachweisen können.
In den letzten zwei Jahren reisten jeweils über 500 Personen pro Jahr aus dem Ausland in die Schweiz, um mit Hilfe einer Sterbehilfeorganisation aus dem Leben zu scheiden. In Belgien waren es um die 100. Genaue Zahlen gibt es nicht, da der Wohnsitz der verstorbenen nicht statistisch erfasst wird.
Beide Länder erlauben grundsätzlich die Suizidhilfe auch für Auswärtige – im Gegensatz etwa zu den Niederlanden oder Spanien. Der Prozess ist aber unterschiedlich. In Belgien ist die aktive Sterbehilfe legal und üblich, das heisst, die tödliche Dosis Natrium-Pentobarbital wird von einem Arzt oder einer Ärztin verabreicht. In der Schweiz müssen die Sterbewilligen diesen Akt selbst ausführen.
Die Involvierung eines Arztes oder einer Ärztin ist in beiden Ländern verpflichtend. In Belgien muss ein zweiter Arzt oder – falls der Tod nicht unmittelbar bevorsteht – ein dritter Arzt beigezogen werden. In der Schweiz ist die Urteilsfähigkeit der Sterbewilligen zu prüfen.
Grundsätzlich ist die Suizidhilfe für Auswärtige in der Schweiz auch bei psychiatrischen Erkrankungen oder sogar ganz ohne medizinische Prognose zugänglich. In Belgien ist das nicht der Fall, weil die dazu nötigen vertieften Gespräche zwischen Sterbewilligen und Ärztinnen und Ärzten erschwert sind.
Die Suizidhilfe wird in der Schweiz von privaten Sterbehilfeorganisationen organisiert. Davon nehmen einige keine Anfragen von Personen mit Wohnsitz im Ausland an. Den grössten Anteil ausländischer Sterbewilliger verzeichnen die Organisationen Dignitas und Pegasos. In Belgien vermitteln Sterbeberatungsstellen Ärztinnen und Ärzte, die Suizidhilfe leisten, davon nehmen nicht alle Anfragen aus dem Ausland an.
Es ist ein schlanker Prozess: Die Kommission prüft, ob die Vorbedingungen eingehalten wurden und kann bei Verdacht die Akte an die Staatsanwaltschaft weiterreichen. Diese kann auch aus eigenem Antrieb oder auf Anzeige hin ermitteln.
Seit der Verabschiedung des Suizidhilfegesetzes 2002Externer Link sei es in Belgien erst einmal zu einer Anklage gekommen, sagt Herremans. Resultat: «Die drei Ärzte, die vor dem Schwurgericht in Gent geladen waren, wurden freigesprochen.»
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Defensive Staatsanwaltschaften
In der Schweiz sprechen sich alle grossen Suizidhilfeorganisationen gegen ein Sterbehilfegesetz aus. Die verbreitete Meinung lautet, dass die minimalistische Regelung im Strafgesetzbuch in Kombination mit der Rechtsprechung des Bundesgerichts genüge. In der Schweiz ist passive SterbehilfeExterner Link nicht strafbar, ausser wenn sie aus selbstsüchtigen Motiven erfolgt.
Die Sterbehilfeorganisation Exit wie auch Preisig vertreten die Meinung, dass auch ein Verzicht auf die gerichtsmedizinische Untersuchung auf heutiger gesetzlicher Basis möglich wäre.
Denn die Strafprozessordnung verlangt die sogenannte Legalinspektion nur für den Fall, dass es «Anzeichen für einen unnatürlichen Tod, insbesondere eine Straftat» gibt oder die Identität des Leichnams unbekannt ist. Beides ist in der Suizidhilfe nicht der Fall.
Ein für Exit erstelltes rechtliches Gutachten kommt denn auch zum Schluss, dass abgesehen von der ärztlichen Leichenschau und der Prüfung der Identität der oder des Verstorbenen keine weiteren Untersuchungen nötig seien. Die Schweizer Staatsanwaltschaften hingegen legen den Artikel nach wie vor defensiv aus.
Preisig sagt, es bleibe leider wahrscheinlich einzig die Möglichkeit, die Pflichten der Staatsanwaltschaften auf «politischem Weg» zu klären, wie auch andere offene Fragen der Sterbehilfe. Doch dafür fehle in der Schweiz im Moment der Mut.
Es bleibt damit vorderhand beim Solothurner Modell. Ob dieses Schule macht, ist unklar. Die Staatsanwaltschaften der Kantone mit den höchsten Suizidbegleitungszahlen liessen eine Anfrage dazu offen mit dem Hinweis: Man kommentiere keine Massnahmen anderer Behörden. Und eine staatlich Stelle, welche die Sterbehilfe landesweit koordiniert, fehlt in der Schweiz.
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