Die sieben erstaunlichen Cannabis-Jahre im Tessin
Von 1996 bis 2003 florierte der Anbau und Verkauf von Marihuana dank des Verkaufs von "Duftsäcklein". Das Ganze endete mit einer Polizeiaktion, die den Kurzschluss zwischen Staat, Produktion und Verkauf aufzeigte.
Das Ende der Geschichte hätte der unverschämteste Witz sein können. Nach monatelangen ununterbrochenen Polizeieinsätzen, bei denen kiloweise Hanf beschlagnahmt und in einem grossen Militärlager gestapelt wurde, geschieht eines Nachts etwas, was niemand vorhersehen konnte: ein Diebstahl.
So geschehen am 26. Oktober 2003 in Arbedo, Kanton Tessin, als eine Gruppe von acht Personen mit Schneidbrennern, Kreissägen und Motorsägen ausgerüstet vor dem Pulvermagazin der Armee eintraf.
Nach mehreren Versuchen waren die Schlösser geknackt, die Sicherheitstüren aufgeschnitten, und vor ihren Augen türmten sich Unmengen von Pflanzen und Blättern in einem Berg von Behältern. Die «grüne Beute» verluden sie zum Abtransport in drei Lieferwagen.
Sehen Sie diese Folge des RSI-Programms «Edizione straordinaria» (Ital.):
Wenige Stunden später wurde die Beute wieder gefunden. Der Polizei war es gelungen, über die gemieteten Lieferwagen die Identität der Diebe zu ermitteln und die in einem unterirdischen Tunnel im Verzascatal versteckte Beute aufzuspüren.
Und doch scheint dieser grosse, nur halb geglückte Raub der würdige Abschluss einer langen Geschichte zu sein, die sieben Jahren andauerte, voller Widersprüche und immer gefährlich an der Grenze zwischen Legalität und Illegalität war – der Geschichte des Hanfs im Tessin.
Zwischen improvisierten Geschäften, Plantagen, schnellem Geld, Opportunismus und Drogenkonsum gab es eine Zeit, von 1996 bis 2003, in der die Produktion und der Verkauf von Hanf das Gesicht einer ganzen Region verändert haben.
Und dies mit einer Geschwindigkeit, welche die Behörden und die öffentliche Meinung, die vor allem am Anfang zwischen Nachsicht und Unverständnis schwankte, überforderte.
Ironischerweise waren diese sieben Jahre auch jene Zeit, in der das Tessin offiziell über die am besten riechenden Kleiderschränke der Welt verfügte.
Denn was den Boom ausgelöst hatte, war eine ebenso einfache wie raffinierte Erfindung: die Kreation von Deodorantbeuteln, die Hanf enthielten und in spezialisierten Geschäften als Duftsäckchen verkauft wurden.
Ein Trick, mit dem die Unklarheiten des damals in der Schweiz geltenden Betäubungsmittelgesetzes einfach umgangen werden konnten.
Das Gesetz verbot nämlich den Anbau und Verkauf von Hanf nur dann, wenn er für Betäubungsmittelzwecke bestimmt war. Für alle anderen oder scheinbar anderen Zwecke blieb er straffrei.
Das begünstigte und förderte die Rechtfertigungen für eine Reihe von fantasievollen Produkten: Duftkissen für Asthmatikerinnen und Asthmatiker, dekorative Trockenblumen, Bademischungen, Potpourri. Hanf in all seinen Variationen.
1996: Eröffnung der ersten Shops im Tessin
1996 wurden im Tessin die ersten Hanfläden («canapai») nach dem Vorbild der übrigen Schweiz eröffnet: das erste «Il canapaio» in Lugano-Cassarate, das zweite in Locarno, das «Biosfera», und weitere an anderen Orten.
In dieser Zeit schien alles in eine Richtung Legalisierung zu laufen. Mitte der 1990er-Jahre waren sich Politik und Öffentlichkeit in einem Punkt einig: Die Entkriminalisierung weicher Drogen stand unmittelbar bevor.
Diese Einschätzung beruhte auch auf den Erfahrungen der vergangenen Jahre, besonders in Zürich mit der Schliessung des Platzspitz und des Letten, die für ihre offenen Drogenszenen berüchtigt waren.
Diese Notsituation sensibilisierte die Bevölkerung für das Problem und weckte in ihr den Wunsch, neue Wege der Drogenbekämpfung zu finden, die nicht nur aus Repression und Polizeiarbeit bestanden.
Und genau in diesem Klima begannen sich die Hanfshops zu vermehren, zuerst etwas diskret, dann immer offensichtlicher.
Jeder von ihnen war bereit, das rechtliche Problem zu umgehen, indem er auf den zum Verkauf angebotenen Produkten deutlich auf die Illegalität der möglichen narkotischen Verwendung von Hanf hinwies.
Diese Fassade hielt auch Polizei und Justiz in Schach, denn um ein Verbrechen anzuzeigen, müssen konkrete und gut dokumentierte Beweise gesammelt werden. Doch hinter der vorgehaltenen Hand wussten alle, wofür das «Gras» verwendet wurde.
Während die Behörden nichts davon mitbekamen, wuchs der Markt, die Schlangen vor den Shops wurden länger, der Umsatz nahm stetig zu.
Was früher in einem Monat geerntet wurde, konnten sie bald schon an einem Tag verkaufen. Zumal der dem Schwarzmarkt entzogene Hanf einen scheinbar offenen Markt schaffte.
Die neuen Händlerinnen und Händler stiegen zum Teil in der Hoffnung auf ein gutes Geschäft auch direkt in den Hanfanbau ein, mit Rechnungsstellung und sauberer Abrechnung der Mehrwertsteuer.
Anbau im Tessin ideal
Zudem war das in der Südschweiz gelegene Tessin ein besonders geeigneter Kanton für solche Kulturen. Das günstige Klima und die damals grassierende Wirtschaftskrise, welche die Landwirtschaft besonders hart traf, machten eine Umstellung auf Hanf attraktiv.
Es gibt drei Möglichkeiten, Hanf zu kultivieren: den Freilandanbau auf offenen Feldern, den Anbau in Gewächshäusern und den Indoor-Anbau. Letzterer ist sehr rentabel, erfordert aber wegen der künstlichen Beleuchtung und des hohen Stromverbrauchs höhere Anfangsinvestitionen.
Die rasch wachsenden, beträchtlichen Gewinne machen jedoch bei allen Betriebsarten die Kosten wett. Das ging so weit, dass in kurzer Zeit viele Grossbetriebe, vor allem in der Magadinoebene, ihre traditionelle Tätigkeit aufgaben, um sich dieser Neuheit anzunehmen.
Der Gewinnsprung war exponentiell: Während früher 1000 Quadratmeter Boden mit Gemüseanbau 25’000 Franken einbrachten, waren es mit Hanf 150’000 Franken.
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Zahlen, die auch einen traditionsreichen Blumenzüchter aus Sementina wie Loredano Martinelli überzeugten, in die Produktion des neuen grünen Goldes einzusteigen.
Seine grossen Fähigkeiten, die er bei der Produktion von Geranien und Alpenveilchen unter Beweis gestellt hatte, kamen auch bei der neuen Herausforderung zum Tragen.
Er beherrschte die Stecklingsvermehrung. Mit anderen Worten: Die unendliche Vermehrung von Setzlingen aus einem Pfropf, die es ermöglicht, viel zu produzieren und noch viel mehr zu verdienen.
Um diese Produktionssteigerung zu bewerkstelligen, ist natürlich eine beträchtliche Menge an Arbeitskräften erforderlich.
Der Bedarf war so gross, dass sogar die regionalen Arbeitsämter Arbeitslose zur Arbeit auf diesen Plantagen drängten. Das stellte die Beziehungen zwischen dem Staat und den Hanfanbauenden auf eine harte Probe.
Im Jahr 2000 war der Hanf schliesslich zu einer Industrie geworden, und alle versuchten, davon zu profitieren, angefangen bei denjenigen, die Ackerland oder Läden zu sehr hohen Preisen verpachteten.
Aber natürlich gab es auch eine Kehrseite der Medaille: Um die industrielle Produktion anzukurbeln, wurden Kulturen in Wohnungen angebaut, oder die Marihuanapflanzen wurden in Gewächshäuser gepfercht, die von bewaffneten Sicherheitsleuten bewacht werden mussten, um Diebstähle zu verhindern.
So verwandelte sich die Magadinoebene innerhalb weniger Monate in einen Wilden Westen mit abgerichteten Wachhunden, Stacheldrahtzäunen, Wachtürmen, Infrarotkameras und Sicherheitspersonal.
Das Tessin als neues Amsterdam?
Dass der Wirtschaftskreislauf ins Unermessliche gewachsen war, bewies auch der Lastwagenverkehr, der täglich von der Magadinoebene Richtung Holland rollte.
Das Tessin wurde so zu einem wichtigen Hanflieferanten für den Amsterdamer Markt. Mit anderen Worten: Das Tessin wurde zum neuen Amsterdam, wie die internationalen Zeitungen damals schrieben.
Kein Wunder, dass sich in diesen Jahren angesichts des Medienrummels ein regelrechter Hanftourismus entwickelte, der selbst in der Nebensaison für ausgebuchte Hotels und Campingplätze sorgte.
Der Zoll war mit den Kontrollen überfordert, und überall wimmelte es von Menschen aus allen Ecken der Welt, die in Parks zelteten, um zu rauchen. Das löste bei der Bevölkerung Unmut und Unbehagen aus.
Und manchmal, wie in Chiasso auf Drängen des Dekans Don Feliciani geschehen, verwandelten sich die Proteste in Komitees, die ein Eingreifen der Behörden forderten.
Der Kampf des Staatsanwalts Perugini gegen die «canapai»
Aus all diesen Gründen gerieten die Hanfshops ab dem Jahr 2000 zunehmend unter Druck. Mehrere Läden wurden geschlossen, weil sie von Minderjährigen besucht wurden, was die Betreibenden selbst dazu veranlasste, den Verkauf an unter 18-Jährige zu verbieten.
Diesen Schritt nutzte der Staatsanwalt Antonio Perugini zu seinem Vorteil, um die unausgesprochene Wahrheit über den tatsächlichen Hanfkonsum aufzudecken: Wenn Hanf wirklich zum Parfümieren von Kleiderschränken verwendet wird, warum sollte es dann für Minderjährige verboten sein?
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Der Kampf Peruginis gegen die Hanfanbauenden wurde zu einer echten Mission, vor allem als Generalstaatsanwalt Luca Marcellini sein Amt an Bruno Balestra übergab.
Mit dem Wechsel an der Spitze der Staatsanwaltschaft änderten sich auch die Prioritäten: Hanf wurde zum Feind Nummer Eins erklärt, so dass Perugini im März 2003 die berühmte «Operation Indoor» starten konnte.
Innerhalb von sechs Monaten wurden in dreissig Polizeiaktionen über 198’000 Hanfpflanzen, vier Tonnen verkaufsfertige Ware und vier Millionen Franken Bargeld beschlagnahmt. Die Geschäfte wurden nach und nach geschlossen.
In diesem Zusammenhang wurden fast 130 Personen ins Gefängnis gesteckt, während bis zu 270 Personen verhört und angeklagt wurden. Diese Zahlen lassen den Tsunami erahnen, der über den Tessiner Hanfmarkt hereingebrochen war, bis hin zu seiner völligen Vernichtung.
Verspätete Reaktion auf die Verlockung des schnellen Geldes
Gleichzeitig bleiben viele Fragen und Kontroversen offen. Hätte man nicht früher eingreifen können? Wenn dies das unvermeidliche Endergebnis war, warum ist die Situation damals so eskaliert?
Warum wurde nicht wie in der übrigen Schweiz vorgegangen, wo die Hanfläden geschlossen wurden und eine angemessene Zeit zur Verfügung stand, um dem Treiben ein Ende zu setzen, ohne nach einer Investition in einen Bereich, der bis dahin als legal galt, an den Pranger gestellt zu werden?
Wegen diesem sieben Jahre währenden Klima der scheinbaren Legalität wurden die Behörden im Tessin von den Betroffenen am stärksten kritisiert.
Umso mehr, wenn man bedenkt, dass die Hanfläden bereits 1988 aufgrund eines Bundesgerichtsurteils, das sich auf den Begriff des «möglichen Vorsatzes» stützte, hätten geschlossen werden können: Wer so genannte Hanf-Duftsäckchen verkauft, kann sich nicht unwissend darüber geben, dass diese in den meisten Fällen als Betäubungsmittel verwendet werden.
Wäre der politische Wille vorhanden gewesen, wäre alles schon früher beendet worden. So aber hat das Tessin wieder einmal zu spät reagiert, weil das schnelle Geld lockte.
Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub
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