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Die süsse Versuchung in der Fremde

Keystone

Sie entflohen dem Hunger und der finanziellen Not: Die Bündner Zuckerbäcker zogen in die Fremde, buken Kuchen und schenkten Kaffee aus. Die Wirtschaftsflüchtlinge kamen so zu Ruhm und Ehre - und machten die Schweizer Qualität in ganz Europa zum Begriff.

«Was wir machen ist Kunst», sagt Carla Schucani, die Chefin der «Pasticceria Sandri» im italienischen Perugia. «Man kann kreativ sein wie in der Malerei oder der Glasblaserei.»

Turmartige, mit Marzipan-Rosen verzierte Torten, mit Schokolade dekorierte Schnitten – bei «Sandri» ist alles Handarbeit.

Carla Schucani führt die Konditorei in vierter Generation, eröffnet wurde das «Sandri» 1840 von ihrem Urgrossvater, der aus dem Unterengadin ausgewandert war.

Die «Pasticceria Sandri» – die älteste Konditorei Umbriens – ist eine der wenigen Konditoreien, die von Bündnern gegründet wurde und bis heute in Bündner Händen ist.

Sie möchte, das alles so bleibt, wie es ist, sagt Schucani. Doch es sei schwierig mit der maschinellen und weniger aufwändigen Produktion der Konkurrenz mitzuhalten.

Im Café mit den hohen Wänden und dem Tresen aus dunklem Holz servieren die Kellner in weisser Schürze, rotem Jackett und Fliege die Espressi in weissen Tassen, auf denen ein kleines Schweizer Kreuz prangt.

Sie leide manchmal an «Increschantüm», an Heimweh nach dem Bündnerland, sagt Carla Schucani. «Ich sehne mich hier nach den Lärchen und in der Schweiz nach den Olivenbäumen.»

«Ich arbeite wie ein Hund»

Die Geschichte der Schucanis ist eine von vielen Beispielen von Bündner Bauern, die auszogen, um ihr Glück als Zuckerbäcker zu versuchen.

Die Ausstellung «Süsse Verheissung. Bündner Zuckerbäcker und Cafetiers in Europa» zeigt einen Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm «Pastiziers – Zürcher Aventüras ed Increschantüm» (Manfred Ferrari, 2004) über die «Pasticceria Sandri».

Wie die Ausstellung zeigt, kamen jedoch längst nicht alle Bündner Auswanderer auf einen grünen Zweig.

So erfährt der Besucher bei der Tonstation über Linard Candreiras Buch «Zurück nach Marmorera» etwa vom Schicksal des Bergbauernbuben Flurin Lozza, der sich 1886 mit 16 Jahren gezwungen sah, im Ausland Arbeit zu suchen.

In Bilbao wird er im «Café Suizo» angestellt, wo er Demütigungen und Schikanen von seinen eigenen Landsleuten erdulden muss. «Ich arbeitete wie ein Hund, doch sie waren nie zufrieden», schrieb dieser in sein Tagebuch.

Rauswurf aus Venedig

Das süsse Handwerk lernten die Zuckerbäcker nicht in der Heimat, sondern in Bündner Konditoreien in der Fremde.

Den Anfang nimmt die Geschichte der Bündner Zuckerbäcker in Venedig. Im Jahr 1630 raffte die Pest ein Drittel der Bevölkerung dahin. Die Arbeitskräfte aus dem Graubünden waren deshalb willkommen – vorerst jedenfalls.

Die Bündner entflohen Armut, Hunger und Solddiensten. Denn Graubünden war bis weit ins 19. Jahrhundert stark landwirtschaftlich geprägt. Die kargen Böden der Bergtäler eigneten sich jedoch nur bedingt für den Ackerbau.

Während die Venezianer Bäcker als Katholiken an Zeremonien und strengere Handelsreglemente gebunden waren, hatten die protestantischen Bündner weniger Einschränkungen. So durften die Venezianer etwa während der Fastenzeit nicht mit Butter backen, die Bündner jedoch schon.

Organisert waren die Bündner in Zünften, wo sie gegenüber den Einheimischen bald die Mehrheit und damit auch wirtschaftliche Macht erlangten. Dies alles sorgte bei den einheimischen Bäckern für Unmut.

Im Jahr 1766 wurden die Bündner praktisch aus Venedig rausgeworfen: Weil sich Venedig und Chur zerstritten, wurden sie sämtlicher Rechte und Privilegien enthoben.

Süsses Netz über Europa

Die Zuckerbäcker dehnten in der Folge ihr Netz über ganz Europa aus, teilweise bis nach Übersee: Insgesamt gab es rund 10’000 Zuckerbäcker in rund 1000 Städten.

Mit ihrem exquisiten Sortiment aus Marzipan, Schokolade, Konfekt, Kuchen, Limonaden, Eisspezialitäten und Kaffee machten sich die Bündner Zuckerbäcker in ganz Europa einen Namen, eroberten von Berlin über Madrid bis St. Petersburg den Markt.

Ihr Erfolgsrezept beruhte auf harter Arbeit und Sparsamkeit, einer ausgesprochenen Anpassungsfähigkeit an die fremden Sitten und Gepflogenheiten, geschickten Investitionsstrategieen und Teilhabersystemen – und nicht zuletzt auf einer bemerkenswerten Vernetzung mit ihren Landsleuten, heisst es in der Ausstellung.

Der Autor Friedrich Sass begründete 1846 die starke Position der Bündner in Berlin mit deren klar definiertem Geschäftsmodell. Dieses anerkenne nur Bündner als Gesellschafter, und das Personal werde vorwiegend aus der Heimat rekrutiert. Ausserdem basiere das Modell auf dem alles überragenden «Geist der Gegenseitigkeit und Einigkeit.»

Tatsache ist: Als Pioniere einer frühen Aussenwirtschaft machten sie «Schweizer Qualität» zu einem Begriff in ganz Europa. Durch ihr Renommee und ihr internationales Netzwerk legten sie den Grundstein für die Schweizer Exportwirtschaft.

Erfinder der Kaffehäuser

Die Bündner Bauern gelten gar als Erfinder der Café-Konditorei – in schlosssähnlichen Sälen mit Kerzenleuchtern und Stukkaturen servierten sie Kaffee und Kuchen. Die Kaffeehäuser wurden zu Zentren des politischen und kulturellen Lebens, zum Treffpunkt der Jeunesse dorée.

Viele der berühmtesten europäischen Kaffeehäuser wie etwa das Café Josty in Berlin oder das St. Petersburger «Café Chinois», wo Literaten und Künstler wie Puschkin, Dostojewski und Gogol verkehrten, sollen von Bündner Auswanderern gegründet worden sein.

Cafés, von denen die Bündner in der Heimat nur träumen konnten. Doch die arrivierten Zuckerbäcker waren auch ein Segen für die Daheimgebliebenen: Sie steckten ihr Geld nicht nur in ihr süsses Geschäft, sondern auch in die Landwirtschaft, in Bauwerke und ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den aufkommenden Tourismus in Graubünden.

Corinne Buchser, Zürich, swissinfo.ch

Mit Fotos, Briefen, Reisespesen, Aufenthaltsurkunden zeigt die Ausstellung «Süsse Verheissung. Bündner Zuckerbäcker und Cafetiers in Europa» die Geschichte der Schweizer Zuckerbäcker auf.

Die Ausstellung im Johann Jacobs Museum in Zürich dauert noch bis am 13. Februar 2010.

Der Beruf des Zuckerbäckers umfasste eine ganze Reihe von Tätigkeiten, die heute durch ganze Industriezweige abgedeckt werden wie die Schokolade- und Konfektproduktion, die Speiseeis- und Limonadenherstellung, das Kafferösten und die Branntweindestillation.

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