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«Die Verfügbarkeit von Kokain in der Schweiz ist beispiellos»

Ein Mann konsumiert eine Linie Kokain [gestellte Aufnahme]
Kokain ist in der Schweiz zu einer Droge für jeden Geldbeutel geworden. Keystone / Martin Rütschi

Einst der Upper Class in Kunst, Mode und Management vorbehalten, ist Kokain zu einer Massendroge geworden. Wie haben sich der Markt und das Image verändert? Wir haben Frank Zobel gefragt, einen der führenden Experten auf dem Gebiet der Sucht- und Drogenpolitik in der Schweiz.

SWI swissinfo.ch: Kann man angesichts der Verbreitung und fortschreitenden Normalisierung des Kokainkonsums noch von typischen Konsument:innen sprechen? inwieweit ist Kokain immer noch eine Elitedroge für spezifische gesellschaftliche Kreise?

Frank Zobel: Die Vorstellung von typischen Kokainkonsumierenden beruht eher auf Stereotypen als auf harten Daten. Heute weiss man, dass das Profil der Konsumierenden äusserst vielfältig ist.

Es gibt die Süchtigen, die täglich grosse Mengen Kokain konsumieren, aber auch Menschen, die ihren Freunden nach dem Abendessen nicht etwa einen Digestif oder einen Schnaps anbieten, sondern eine Line Kokain.

Es gibt auch Berufstätige wie Maurer oder Restaurantangestellte, die am Ende eines Arbeitstags konsumieren. Das Spektrum der Konsumierenden ist viel breiter als in der Vergangenheit.

Ein Mann
Frank Zobel ist stellvertretender Direktor der Organisation Sucht Schweiz. Sucht Schweiz / Olivier Wavre

Der Konsum einiger Drogen – ich denke an Ecstasy, Hanf, aber auch Kokain – ist nicht mehr nur bestimmten Personengruppen vorbehalten.

Er wird immer mehr zu einer normalen Praxis, die grösstenteils akzeptiert wird und mit den Werten und dem Rhythmus unserer Gesellschaft vereinbar ist, da ihr Konsum es ermöglicht, die Arbeitsleistung zu verbessern und das Bedürfnis nach Spass zu befriedigen.

Drogen haben einen anderen gesellschaftlichen Stellenwert als noch vor drei oder vier Jahrzehnten.

Wenn wir an Kokain denken, können wir dann von einer «Volksdroge» sprechen, da es unterdessen für fast jeden Geldbeutel erschwinglich ist?

Ja, der Preis ist kein wirkliches Hindernis mehr. In Lausanne zum Beispiel kostet eine auf der Strasse gekaufte Dosis rund zehn Franken, und für weniger als 100 Franken kann man ein Gramm Kokain kaufen.

Es handelt sich also um eine Substanz, die für verschiedene Bevölkerungsgruppen zugänglich ist und die nicht nur von Suchtkranken, sondern auch von Gelegenheitskonsumierenden eingenommen wird.

Die Verfügbarkeit ist derzeit beispiellos. Zudem hat das auf der Strasse verkaufte Kokain oft einen Reinheitsgrad von 70 bis 80%.

In der Schweiz hat das Kokain das Heroin als harte Droge abgelöst. Dieser Trend ist auch in Deutschland, Frankreich und Italien zu beobachten.

Frank Zobel, stellvertretender Direktor und Co-Forschungsleiter von Sucht Schweiz, verfügt über 30 Jahre Erfahrung im Drogenbereich, sowohl national als auch international. Er ist einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Sucht- und Drogenpolitik in der Schweiz.

Zobel war elf Jahre am Universitätsinstitut für Sozial- und Präventivmedizin in Lausanne tätig, danach sieben Jahre an der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht in Lissabon.

Seit 2014 arbeitet er bei Sucht Schweiz, wo sein Schwerpunkt auf Drogenpolitik, Konsum- und Marktstudien liegt. Er ist Mitglied mehrerer lokaler und nationaler Fachgruppen.

Was hat es auf sich, so reines Kokain auf dem Markt zu haben? Und welche Auswirkungen hat es auf die Menschen, die es konsumieren?

Vor einem Jahrzehnt lag der Reinheitsgrad bei etwa 40 bis 50%, weil es mit zahlreichen Zusatzstoffen gestreckt wurde. Diese Stoffe erhöhen nicht nur die Gewinne der Drogenhändler, sondern verstärken manchmal auch die psychoaktive Wirkung der Droge.

In den letzten sechs bis sieben Jahren ist der Reinheitsgrad deutlich gestiegen. Was sind die Gründe für diesen Trend? Eine Erklärung könnte sein, dass die Drogenhändler weniger Streckmittel verwenden und es vorziehen, Kokain sofort zu verkaufen, ohne Zeit mit dem Strecken zu verlieren. Oder sie haben Schwierigkeiten, diese Zusatzstoffe zu beschaffen, da sie zu teuer sind.

Das bedeutet, dass Kokain weniger gefährliche Substanzen enthält, aber auch, dass seine Wirkung intensiver ist. Es sei daran erinnert, dass ein höherer Reinheitsgrad grössere Risiken für das Herz-Kreislauf-System birgt, da die Wirkung von Kokain auf das Herz stärker ist.

Darüber hinaus sind viele regelmässige Konsumierende der Meinung, dass die Qualität des heute verkauften Kokains geringer ist als früher, weil sie es früher mit verschiedenen Zusätzen konsumierten, die eine andere Art von Wirkung hervorrufen.

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Ist mit der zunehmenden Einfuhr von Kokain aus Südamerika nach Europa auch die Zahl der Menschen, die es konsumieren, gestiegen? Gibt es aktuelle Statistiken?

Derzeit liegen uns keine verlässlichen Daten vor, die einen Anstieg der Zahl der Kokainkonsumierenden bestätigen. Abwasseranalysen deuten darauf hin, dass in Schweizer Städten im europäischen Vergleich viel Kokain konsumiert wird, zeigen aber keine signifikante Zunahme gegenüber den Vorjahren.

Die kürzlich veröffentlichte Schweizerische Gesundheitsbefragung des Bundesamts für StatistikExterner Link zeigt, dass im Jahr 2022 rund 1% der erwachsenen Bevölkerung Kokain konsumierte.

Dieser Prozentsatz ist im Vergleich zu vor fünf Jahren stabil. Um die Frage genau zu beantworten, müsste man umfangreiche Untersuchungen durchführen.

Heute müssten wir alle vorhandenen Daten zusammenführen, neue Erhebungen durchführen und neue Informationen sammeln, um zu verstehen, was wirklich passiert. Aus diesem Grund haben wir das Bundesamt für Gesundheit gebeten, eine eingehende Analyse des Kokainkonsums in der Schweiz durchzuführen.

Die letzte grössere Studie ist fünf Jahre her und wurde von Ihnen, von Sucht Schweiz, durchgeführt. Gemäss Ihren Schätzungen wurden damals in der Schweiz jährlich fünf Tonnen Kokain konsumiert, verkauft und gekauft. Können Sie uns sagen, wie der Kokainmarkt funktioniert?

Der Kokainmarkt in der Schweiz zeichnet sich durch seine grosse Vielfalt aus. Die Diversifizierung der Transportwege hat dazu beigetragen, dass grosse Mengen an Drogen nach Europa gelangen, wie die grossen Funde in verschiedenen europäischen Häfen zeigen.

Das reichhaltige Angebot hat zu einem verstärkten Wettbewerb auf dem Markt geführt, der sich sowohl auf die Preise als auch auf die Verfügbarkeit von Kokain auswirkt.

Wir wissen, dass der Drogenhandel von verschiedenen kriminellen Gruppen und Organisationen kontrolliert wird. Dazu gehören Gruppen aus Westafrika, die nicht nur in der Schweiz, sondern auch in anderen Ländern aktiv sind, und Organisationen aus dem Balkan, besonders aus albanischsprachigen Ländern.

Es gibt auch Akteure, die vor allem im Verborgenen agieren, wie südamerikanische Drogenhändler, die Kokain vor allem innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaften vertreiben. Andere nutzen das Darknet und die sozialen Medien, um Kokain zu verkaufen. Auch Schweizer Bürgerinnen und Bürger sind in diese illegalen Aktivitäten verwickelt.

Am Kokainhandel ist also ein breites Spektrum von Personen beteiligt. Im Gegensatz zum Heroinmarkt, der eine traditionellere Struktur aufweist und hauptsächlich von Personen aus Albanien, dem Kosovo und anderen Teilen des ehemaligen Jugoslawiens kontrolliert wird, ist der Kokainhandel viel zersplitterter und vielfältiger.

Im letzten Sommer haben wir ein besorgniserregendes neues Phänomen beobachtet: den zunehmenden Crack-Konsum. Mit dem Beginn der wärmeren Jahreszeit wird diese «offene Drogenszene» in vielen Schweizer Städten wieder auftauchen. Sind die Städte in der Zwischenzeit auf das Problem vorbereitet?

Das verbreitete Problem des Kokains, das in Form von Crack von Süchtigen geraucht wird, betrifft sowohl grosse als auch kleinere Städte wie Solothurn, Luzern, Lugano und Chur. Die lokalen Behörden haben verschiedene Strategien entwickelt und Massnahmen ergriffen, um der Situation zu begegnen.

Zu den Initiativen gehören die Einrichtung von sicheren Räumen für den Konsum, die verstärkte Präsenz von Sozialarbeitenden in kritischen Gebieten und die Verstärkung der polizeilichen Überwachung.

Mit dem Beginn des Frühlings wird sich zeigen, ob diese Massnahmen wirksam und ausreichend sind, um das Phänomen einzudämmen.

Sollten die Probleme fortbestehen oder sich verschlimmern, müssen unbedingt alternative und innovativere Lösungen und Ansätze ins Auge gefasst werden. Wie etwa die von einigen Parlamentariern vorgeschlagenen Pilotprojekte in den Städten Bern und Lausanne, die eine kontrollierte Abgabe von Kokain vorsehen.

Übertragung aus dem Italienischen von Marc Leutenegger

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