Die Welt gedenkt der Auschwitz-Opfer
Holocaust-Überlebende und Spitzenpolitiker aus aller Welt, unter ihnen Samuel Schmid, haben in Auschwitz der Befreiung der KZ-Häftlinge vor 60 Jahren gedacht.
Im Vorfeld der Gedenkfeier löste der Präsident des Jüdischen Weltkongresses in der Schweiz eine Kontroverse aus.
«Was in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern geschah, darf nie vergessen werden», erklärte Bundespräsident Samuel Schmid am Rande der Gedenkfeier auf dem Gelände des einstigen Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau in Polen.
60 Jahre nach der Befreiung der KZ-Häftlinge durch die Rote Armee gedachte Schmid als offizieller Vertreter der Schweiz zusammen mit rund 1000 KZ-Überlebenden, sowie Staats- und Regierungschefs aus 46 Staaten der rund 1,5 Mio. Menschen, die in Auschwitz unter dem Nazi-Regime umgebracht worden waren.
«Die Feier war eindrücklich und aufwühlend. Sie rief ein dunkles Kapitel der Geschichte in Erinnerung, von dem wir nur hoffen können, dass es sich nie wiederholt», sagte Schmid gegenüber dem Westschweizer Radio.
Wider das Vergessen
Drei Tage vor der Feier in Auschwitz traten die Vereinten Nationen erstmals zu einer Sondersitzung zusammen, an der sie der Befreiung der Auschwitz-Häftlinge gedachten. Die historische Sitzung der UNO-Vollversammlung wurde in New York mit einer Schweigeminute eröffnet.
In Berlin luden ehemalige KZ-Häftlinge zur Gedenkfeier der Auschwitz-Befreiung ein. Dort rief der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder zum entschiedenen Kampf gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus auf. Im Bundestag wurde am Mittwoch zudem eine Gedenkstunde abgehalten.
In Paris verbeugte sich der französische Präsident Jacques Chirac am Dienstag vor den NS-Opfern. Er weihte das neue Holocaust-Mahnmal im jüdischen Viertel Marais ein. Auch der Europarat in Strassburg weihte ein Mahnmal ein.
Polemik gegen die Schweiz
Vor dem Hintergrund der Gedenkfeierlichkeiten zur Auschwitz-Befreiung kam es in der Schweiz zu einer Kontroverse, die Israel Singer, Präsident des Jüdischen Weltkongresses (WJC), am Dienstag ausgelöst hatte.
An der Gedenkveranstaltung in Berlin zur Auschwitz-Befreiung bezeichnete Singer die Neutralität der Schweiz angesichts des Holocausts als Verbrechen, genauso wie die Mittäterschaft Österreichs und die Kollaboration in Frankreich.
Israel Singer stand bereits in den 90er-Jahren in der Kontroverse um die Rolle der Schweiz im 2. Weltkrieg als WJC-Generalsekretär an vorderster Front. Dabei kritisierte er nicht nur die Schweizer Banken wegen der nachrichtenlosen Vermögen von Holocaust-Opfern, sondern auch die Neutralitätspolitik der Schweiz zur Nazizeit.
Grosses Lob fand er jedoch Ende 1999 für den Flüchtlingsbericht der unabhängigen Expertenkommission, die unter der Leitung von Jean-François Bergier die Rolle der Schweiz im 2. Weltkrieg untersuchte.
Auf Singers aktuelle Polemik reagierte der Historiker Bergier daher mit Unverständnis. «Diese Äusserungen scheinen mir eine Entgleisung zu sein», sagte er am Mittwoch gegenüber Radio DRS.
Singer wisse, dass nach Einschätzung der Kommission die Neutralität der Schweiz in der schwierigen Situation des 2. Weltkriegs die einzige Chance gewesen sei. Wenn schon müsste man Verletzungen der Neutralität durch die Schweiz kritisieren.
Widerspruch der Schweizer Juden
Auch beim Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) fand man Singers Kritik verfehlt. Die Schweizer Juden unterstützten die Aussagen Singers in keiner Weise, unterstrich SIG-Sprecher Thomas Lyssy.
Man dürfe nicht aktive Kollaboration mit Neutralität vergleichen. Klar sei für den SIG, dass «die Schweiz ihre Geschichte, auch die dunklen Seiten, in exemplarischer Weise aufarbeitet hat».
SIG-Präsident Alfred Donath erklärte gegenüber der Westschweizer Zeitung «Le Temps», er werde beim Europäischen Jüdischen Kongress (EJC) gegen Singers Äusserungen protestieren. «Wir werden nicht nur eine Entschuldigung Singers verlangen. Wir werden ihn auch auffordern, den Vorsitz im leitenden Board of Governors des EJC aufzugeben. Er hat sich disqualifiziert», so Donath weiter. Singer habe in einem völlig unpassenden Moment einen Streit vom Zaun gebrochen.
Unverständnis bei den Behörden
Auch die Landesregierung wollte im Moment, da die Welt der Auschwitz-Opfer gedachte, auf eine Auseinandersetzung verzichten. Noch am Dienstag lehnten der Bundesrat und das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) eine Stellungnahme zu Singers Aussagen ab.
Das Schweigen brach Aussenministerin Micheline Calmy-Rey. Im Westschweizer Radio erklärte sie am Mittwoch, es gehe nicht an, die Neutralitätspolitik in der damaligen Zeit mit Kollaboration mit den Nazis gleichzusetzen. Die Äusserungen Singers seien für den Bundesrat unverständlich.
Ziel der schweizerischen Neutralitätspolitik sei es gewesen, die Schweiz vor den Nazis und vor dem Krieg zu schützen. Die Schweiz habe überdies wie kein anders Land – vielleicht mit Ausnahme Deutschlands – ihre Kriegsvergangenheit aufgearbeitet.
Ähnlich äusserte sich auch Bundespräsident Schmid am Rande der Feierlichkeiten in Auschwitz. Er halte Singers Vorwürfe für unverständlich und inakzeptabel, erklärte er gegenüber dem Westschweizer Radio. «Israel Singer ist kein Staatsmann. Wenn er ehrlich ist, wird er sich entschuldigen.»
swissinfo und Agenturen
Das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau in Polen wurde am 27. Januar 1945 von der sowjetischen Armee befreit.
Dabei wurden 7000 KZ-Häftlinge gerettet.
Die Feier am Donnerstag fand zum Gedenken der bis zu 1,5 Mio. Auschwitz-Opfer unter dem deutschen Nazi-Regime statt.
Spitzenpolitiker aus aller Welt warnten vor einer Wiederholung eines solchen Verbrechens.
Bundespräsident Samuel Schmid nahm als offizieller Vertreter der Schweiz an den Feierlichkeiten teil.
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