Dieter Bäumli: «1971 sass ich zum ersten Mal auf den Bäumen»
Der Basler Dieter Bäumli wurde in mit den 1968ern politisiert, hat die Welt bereist, geheiratet, zwei Kinder beim Erwachsenwerden begleitet. Er sass auch im Gefängnis, doch im Gegensatz zu vielen Weggefährten hat er seine politischen Ansichten bis heute beibehalten. Und mit ihnen die Freude am Leben.
Dieter Bäumli sitzt auf einem Sofa in seinem kleinen Wohnzimmer. An den Wänden des fast gänzlich in Rot und Schwarz gestalteten Raums hängen diverse Porträts: Lenin, Ho Chi Minh, Angela Davis. Dazwischen ein auf Stoff gedrucktes Bild von Karl Marx.
Auf dem Kaffeetisch liegt ein Buch der albanischen Politikwissenschaftlerin Lea Ypi. Bäumli nimmt es in die Hand und sagt: «Ich liebe es zu lesen. Wenn irgendwo ein Buchstabe ist, muss ich ihn lesen – egal, ob es sich dabei um Literatur, um Sachbücher oder um Nachrichten handelt.»
Bäumli kam 1951 in Basel zur Welt. Heute lebt er in einer Zweizimmerwohnung im Klybeck-Quartier. «Ich habe noch nie irgendwo anders gewohnt als in dieser Stadt, in Basel», sagt er nicht ohne einen gewissen Stolz. Hineingeboren wurde Bäumli in eine Familie «des unteren Mittelstands». Er ist das jüngste von drei Geschwistern, er hat einen Bruder und eine Schwester.
«Ich wuchs auf mit einem Vater auf, der sehr politikinteressiert war und in der Familie mit niemandem so richtig über diese Ideen sprechen konnte», sagt Bäumli und ergänzt lachend: «In mir fand er schliesslich jemanden, dem er die Welt erklären konnte.»
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So war es dann auch der Vater, der Dieter Bäumlis Interesse an gesellschaftlichen Fragen weckte. Von da an wurden die Überzeugung für linke Politik zu seinem persönlichen Motor.
1967 veranstaltete er in einem Pfadilokal eine Ausstellung zu den damals stattfindenden Aufständen der schwarzen Bevölkerung in der amerikanischen Stadt Detroit. «Das war wohl meine erste politische Aktion», sagt er. «Ich wollte die Menschen darüber informieren, was dort vor sich geht, welche Ungerechtigkeiten passieren.» Ungerechtigkeit und die Frage danach, wie man sie überwinden kann, so sagt er, hätten ihn von früh an umgetrieben.
Der Colapreis und die Weltrevolution
Seine Schulkarriere verlief nach eigener Aussage zwar «stromlinienförmig», aber das frühe Interesse an Politik und politischer Organisation stiess in der Lehre als Spediteur auf wenig Gegenliebe.
«Damals fiel ich bei den Lehrmeistern durch politische Tätigkeiten unangenehm auf – entsprechend war ich dann auch der einzige Lehrling in dieser Bude, der keine Anschlussstelle bekam.»
Und auch die anderen Lehrlinge hätten wenig von seinen Ideen und Agitationen gehalten, erzählt Bäumli: «Sie waren zwar alle auch dafür, dass die Cola am Pausenautomat nicht mehr einen Franken, sondern 50 Rappen kostete, aber wie das mit der Weltrevolution zusammenhängt, das interessierte sie dann nicht mehr.»
Arbeit fand Bäumli anschliessend bei der im Zuge der 1968er-Bewegung mit kommunistischer Orientierung gegründeten Partei POCH (Progressive Organisation Schweiz). Rund anderthalb Jahre arbeitete er als Sekretär für die Partei. «Das war die einzige Zeit in meinem Leben, in der ich zu 100 Prozent politisch aktiv war. Und das sogar auf einem bezahlten Posten.»
500 Franken hätte er monatlich verdient, sagt Bäumli. «Damals reichte das völlig aus.» Später wechselte er wieder in seinen Lehrberuf. Der POCH blieb er bis zu deren Auflösung 1991 als aktives Mitglied erhalten.
Parteischulung hinter Gittern
Seither verfolgte Bäumli unterschiedliche politische Projekte. Was ihm besonders am Herzen liege, sei immer wieder die Ökologie gewesen, sagt er. «1971 sass ich zum ersten Mal auf den Bäumen. Damals wollten sie im Basler Schützengraben eine Strasse bauen. Die Strasse gibt es heute immer noch nicht, aber die Bäume stehen noch!»
Bäumli war im Bereich der Asyl- und Flüchtlingspolitik aktiv, besetzte Häuser und Wälder, protestierte gegen Atomkraftwerke und Kriege.
Wegen der Verweigerung des Militärdienstes musste Bäumli Anfang der 1970er-Jahre ins Gefängnis – sechs Monate, und einen Monat obendrauf für einen frechen Spruch gegenüber dem Richter.
Bäumli lacht schelmisch und erzählt: «Das war eine Zeit, in der der Staat ein grosses Problem mit Dienstverweigerern hatte. Also konzentrierte man uns im Untersuchungsgefängnis in Olten und hoffte darauf, dass es uns eine Lektion sei.»
Doch der Schuss sei nach hinten losgegangen: «Wir waren ja allesamt Genossen, die dort einsassen. Also machten wir einfach ein halbes Jahr lang Parteischulung!»
Mit dem Velo ans schwarze Meer
Bäumlis andere Leidenschaft war immer das Reisen. Mit seiner Frau Christine Studer bereiste er fast die ganze Welt. Über sechs Jahre hinweg hatte das Paar keinen festen Wohnsitz, war monatelang unterwegs, wohnte zwischenzeitlich bei Freunden und brach dann wieder auf.
An einer Wand in Bäumlis Schlafzimmer hängt eine riesige Weltkarte – übersät mit kleinen Steckmarkierungen auf jedem Kontinent.
«Am Anfang reisten wir als Tramper mit Rucksack und öffentlichen Verkehrsmitteln. Dann, nach meiner Pensionierung, versuchten wir es per Fahrrad. Einmal fuhren wir mit dem Velo bis nach Finnland, ein anderes Mal bis ans Schwarze Meer.»
Seine spätere Ehefrau Christine Studer hatte Dieter Bäumli Mitte der 1970er-Jahre bei der Arbeit kennengelernt. «Drei Monate lang waren wir noch per Sie und per Fräulein», erinnert er sich.
Neben der gemeinsamen Leidenschaft für das Reisen gingen sie zusammen an Demonstrationen, teilten Ansichten und Ideale. 1981 heiratete das Paar, und ein und zwei Jahre später kamen die beiden gemeinsamen Söhne zur Welt.
Mit ihnen trat neben dem Reisen und der Politik noch ein drittes Projekt ins Leben des Ehepaars Bäumli: «Die ganze Frage vom Kinderkriegen und Aufziehen hat mich gepackt! Auch damals schon haben wir uns als politische Menschen die Frage gestellt, was das für eine Welt ist, in die wir diese Kinder entlassen und wie wir das hinkriegen, dass aus ihnen mal anständige Menschen werden.»
Eine Katastrophe und Selbstverständlichkeit
Die Haus-, Betreuungs- und Erwerbsarbeit teilte sich das Paar 18 Jahre lang zu gleichen Teilen auf geteilt. Das sei ihnen sehr wichtig gewesen, erzählt Bäumli.
Sobald die Kinder gross genug waren, nahm das Paar sie mit an Demonstrationen und Kundgebungen. Auch heute noch würden seine Söhne «wichtigen Mobilisierungen» nicht fernbleiben, sagt Bäumli stolz.
Angst, dass sich seine Kinder politisch gegen ihn wenden könnten, hatte er nie. «Man kann ja etwas dagegen machen. Ich bin der Ansicht, dass meine Argumente schon Hand und Fuss haben.»
Dass ihr Vater bis heute so politisch aktiv ist, finden seine Söhne in Ordnung. «Für sie ist es vor allem wichtig, dass es mir gut geht.»
Christine Studer starb vor rund zehn Jahren an den Folgen einer Krankheit. Sie wurde 59 Jahre alt. Wenn er über seine Frau spricht, wird der ansonsten so aufgestellte Dieter Bäumli etwas ruhiger. Die Antworten kommen nicht mehr so schnell und selbstsicher.
Wie es denn für ihn gewesen sei, damals, als seine Frau verstarb? «Es war ein Gefühl zwischen absoluter Katastrophe und der Selbstverständlichkeit zu wissen: Auch das gehört zum Leben dazu.» Damals zog Dieter in die Zweizimmerwohnung im Klybeckquartier, in der er noch heute lebt.
Ein Bild von Christine Bäumli hängt im Eingang der Wohnung. «Wir waren so ein symbiotisches Paar», sagt Bäumli mit Blick auf das Porträt. «Niemand würde jemals wieder ihren Platz in meinem Leben einnehmen können, diesem Vergleich hält keine statt.»
Einsam ist Dieter Bäumli seither aber nicht – ganz im Gegenteil.
Wenn das Geweih leuchtet, darf man auf ein Bier vorbeigehen
Bei einem kleinen Spaziergang durch das Quartier erzählt er von seinen Nachbarn und Freunden, zeigt die Orte, an denen er bereits aktiv war und wo etwas «gelaufen ist», und auch die Sommerbar, die er zusammen mit Freundinnen und Freunden saisonal betreibt und die zugleich als Quartiertreffpunkt dient.
Später, im Garten seines Wohnhauses, erzählt Dieter Bäumli von den Leuten vom Haus gegenüber, allesamt seine Freunde.
«Im Sommer haben sie ein ganz kitschiges, batteriebetriebenes Hirschgeweih draussen hängen. Wenn es leuchtet, dann heisst das, man darf für ein Bier vorbeischauen.»
Und dann ist da natürlich weiterhin die Politik, die Struktur in Bäumlis Leben bringt. Zurzeit ist er im Grauen Block aktiv, einer Gruppe von rund 60 Personen zwischen 50 und 75, die allesamt bereits davor in Basel politisch engagiert, aber heimatlos waren.
Dieter Bäumli ist eines der Gründungsmitglieder: «Einen Anlass, Strukturen zu bilden, gab uns die grosse Basel Nazifrei-Demo von Ende 2018, als rund 60, 70 Menschen zwischen 18 und 30 für ihren Widerstand gegen die Versammlung von Neonazis mitten in Basel festgenommen wurden», erzählt er.
«Wir Alten sammelten daraufhin 60 Menschen zusammen, die ebenfalls an der Demo gewesen waren, gingen zum Polizeiposten und sagten: ‘Hallo, wir waren auch an dieser Demo. Nehmt uns doch auch fest, klagt uns auch an.’»
Die Gruppe wurde ignoriert; Festnahmen oder Anzeigen gab es keine. «Die Erziehungswirkung, die sich der Staat von einem solch harten Vorgehen gegenüber jungen, politisch aktiven Menschen erhofft, ist bei uns schlichtweg nicht mehr wirksam», sagt Bäumli und lacht. «Damit haben sie sich doch selbst entlarvt.»
Alle zwei bis drei Wochen gibt es eine Vollversammlung der Gruppe Grauer Block, die sich in diversen Untergruppen und Aktionseinheiten mit eigenen Sitzungszyklen organisiert.
«Im Moment geht es mir vor allem darum, Teil zu sein und Teil zu bleiben. Auch wenn ich keine grossen Sprünge mehr mache: Ich will dabei sein, wenn es wirklich abgeht.» Und ausserdem seien das alles gute Freundinnen und Freunde beim Grauen Block, erzählt er.
Von seinen Weggefährtinnen und Weggefährten aus den Anfängen seiner politischen Laufbahn sei hingegen «kein einziger» mehr da. Manche seien bereits verstorben, der Grossteil aber habe sich entweder in den Parlamentarismus zurückgezogen, wie Bäumli sagt, oder habe das politische Projekt ganz aufgegeben.
Was denn die Gründe dafür seien, dass er nicht wegbrach, noch heute auf die Strasse geht? «Ich glaube immer noch, dass es das Richtige ist. Ich glaube an die Verhinderung von Unrecht und daran, dass ein gutes Leben für alle Menschen möglich ist – ganz einfach», sagt Bäumli. «Und es hat mir immer Spass gemacht, das macht es noch heute.»
Dann steht er auf und holt einen Pin hervor. Darauf ist ein Zitat der amerikanischen Anarchistin Emma Goldman abgedruckt: «Wenn ich nicht tanzen kann, ist es nicht meine Revolution.»
«Ich war nie der Todernste», sagt Dieter Bäumli. «Ich wurde in einer Zeit politisiert, in der auch diese Hippie-Hedonisten-Aussteigersache angesagt war. Auch wenn ich mich politisch für einen anderen, radikaleren Weg entscheiden habe, ging dieses Lebensgefühl auch an mir nicht vorbei. Und ich habe es mir über all die Jahrzehnte hinweg bewahrt – auch wenn es manchmal zwischendurch aussichtslos scheint.»
Editiert von Marc Leutenegger
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