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Ein Leben gegen die «Lüge von Distomo»

Keystone

Am 10. Juni 1944 wurde Argyris, noch keine vier Jahre alt, seiner Eltern beraubt. Deutsche Soldaten brachten in einem Massaker im griechischen Dorf Distomo 218 Menschen um.

Mit neun Jahren kam er ins Schweizer Pestalozzidorf in Trogen, studierte später Mathematik und Astrophysik. Mit seinem Schicksal wollte er sich nicht einfach abfinden, sondern gegen Krieg und Unmenschlichkeit ankämpfen.

Es sei müssig und abstrakt, darüber zu sinnieren, wie sein Leben verlaufen wäre, hätte es das Massaker in Distomo nicht gegeben, sagt Argyris Sfountouris im Gespräch mit swissinfo.

Damals wurde ihm im Alter von knapp vier Jahren das Urvertrauen, die Geborgenheit, auf einen Schlag weggenommen.

Verlust von Familie und Heimat

Der kleine Argyris kam zusammen mit 10’000 anderen Kindern in ein Waisenhaus in Piräus, später, weil er nicht mehr essen wollte und konnte, in ein kleineres ausserhalb Athens. Die Lage war schwierig, das Land mitten im Bürgerkrieg. Argyris hatte mit neun Jahren das Gewicht eines 5-Jährigen. So kam der griechische Waisenbub ins soeben gegründete Pestalozzidorf im appenzellischen Trogen, wo Kriegskinder aufgenommen wurden.

«Das war ein weiterer Verlust: Zuerst verlor ich meine Familie, dann meine Heimat, meine Kultur.»

In Trogen wohnte er zusammen mit Kindern, die ein ähnliches Schicksal hatten, im griechischen Haus. «Wir sprachen nicht über unsere Vergangenheit. Nur ab und zu, wenn wir uns im Zimmer unter dem Dach vor dem Einschlafen Märchen erzählten, liessen wir etwas davon einfliessen.»

Durst nach Wissen

Argyris wurde in griechischer Sprache und Kultur unterrichtet, las alles, was es auf Griechisch gab: Victor Hugo, Charles Dickens und vieles mehr. «Ich sog damals alles in mich auf.»

Der aufgeweckte junge Grieche kam aufs Gymnasium, ging später nach Zürich, studierte an der ETH Mathematik und Astrophysik. Nach dem Studium unterrichtete er an Gymnasien und begann schon bald, berühmte griechische Dichter wie Giorgos Seferis oder Jannis Ritsos ins Deutsche zu übersetzen.

Intellektuell ist Sfountouris stark von der deutschen Sprache geprägt, auch wenn er perfekt griechisch spricht und auch schreiben kann. «Für hochintellektuelle, philosophische, wissenschaftliche Themen brauche ich Deutsch. Ich könnte spontan keinen Astronomie-Vortrag auf Griechisch halten.»

Einsatz für mehr Menschlichkeit

Im Alter von 40 Jahren änderte Argyris Sfountouris sein Leben radikal. «Ich wollte nicht bis zum bitteren Ende ein gut bezahlter Beamter bleiben.» Es zog ihn in die weite Welt hinaus. In Nepal, Somalia und Indonesien war er in der Entwicklungshilfe tätig, auch für das Schweizerische Katastrophenhilfekorps. Er wollte helfen, vor allem auch Kindern, die ein ähnliches Schicksal erfahren hatten wie er.

Zeit seines Lebens hat sich Argyris Sfountouris mit dem Thema Gut und Böse, Krieg und Frieden befasst. Er konnte sich mit dem traumatischen Erlebnis seiner Kindheit nicht einfach abfinden. Er wollte etwas daraus machen, die Öffentlichkeit aufrütteln, sich stark machen dafür, dass solche Verbrechen nie mehr passieren.

So organisierte er 1994 in Delphi, 50 Jahre nach dem Massaker, eine Tagung zum Thema Krieg und Frieden. Es kamen Referenten aus Griechenland, der Schweiz und Deutschland. Ein Vertreter des deutschen Staates war nicht präsent.

Juristischer Marathon

1995 reichte Argyris Sfountouris zusammen mit seinen drei Schwestern eine Entschädigungsklage ein. Sie wurde abgelehnt. Als auch das Bundesverfassungsgericht, die oberste Instanz, die Klage abwies, gelangte Sfountouris ans Europäische Menschenrechtsgericht in Strassburg. Dort ist die Klage noch hängig.

Empört ist Sfountouris vor allem darüber, dass das Massaker von Distomo, oder die Lüge von Distomo wie er es nennt, von der deutschen Regierung als «Massnahme im Rahmen der Kriegsführung» bezeichnet wird. «Dabei war es ganz klar ein Kriegsverbrechen.»

Die deutsche Seite habe Angst, mit dem Fall Distomo werde ein Präzedenzfall geschaffen, der zu weiteren Klagen führen könnte. «Aber einen Mörder verurteilt man, auch wenn man weiss, dass es noch x weitere Mörder gibt. Es geht um Recht.»

Argyris hofft nun auf das Urteil aus Strassburg. «Ich erwarte nichts zu meiner persönlichen Bereicherung, aber von der Symbolkraft her, unbedingt ein positives Echo. Denn wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Opfer des Krieges nochmals entrechtet, sehe ich darin eine zusätzliche Katastrophe.»

Zwei Heimaten

Seit den frühen 90er-Jahren pendelt Aryris, der alleine lebt, zwischen Zürich und Athen. In der griechischen Hauptstadt hat er ein Archiv zum Massaker von Distomo aufgebaut.

Früher habe er sich jeweils fürchterlich aufgeregt: in Athen über den Verkehr, in Zürich über die Kälte, auch die menschliche.

«Ich sagte mir dann: Wieso machst du es nicht umgekehrt und geniesst in Zürich das, was wesentlich schöner ist und umgekehrt? Zu meinem Erstaunen ist mir das geglückt.»

Seither sei er entspannt. Alle Sehnsüchte, das Heimweh, das Zehren, das Gefühl, nirgends wirklich zu Hause zu sein, seien weg. «Es hat sich eine Situation innerer Entspanntheit ergeben, wie ich sie in meinem ganzen Leben nicht gekannt habe.»

swissinfo, Gaby Ochsenbein, Zürich

Geb. 1940 in Distomo, Zentralgriechenland
10. Juni 1944: Massaker in Distomo mit 218 Toten. Aryris verliert seine Eltern und 30 weitere Familienangehörige.
1944 – 1949: Aufenthalt in Waisenhäusern in Piräus und Athen.
Ab 1949 bis zur Matura: wohnhaft im Pestalozzidorf in Trogen, Schweiz
Danach Studium der Mathematik und Astrophysik, später Unterricht an Zürcher Gymnasien.
Ab 1980 ist er in der Entwicklungshilfe in Nepal, Somalia und Indonesien tätig.
1995: Argyris Sfountouris und seine drei Schwestern reichen Klage gegen Deutschland ein. Der Anspruch auf Entschädigung wird bis 2006 in drei Instanzen abgelehnt. Jetzt ist die Klage am Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg hängig.
Seit den frühen 1990er-Jahren lebt er in Zürich und Athen.

Der Schweizer Filmemacher Stefan Haupt hat einen Dokumentarfilm über das Leben von Argyris Sfountouris gedreht: «Ein Lied für Argyris», erschienen 2006

Produktion Fontana Film GmbH

Nomination Schweizer Filmpreis 2007 «Bester Dokumentarfilm»
Publikumspreis Dokumentarfilmfestival Thessaloniki 2007
Kyiv Contact Documentary Film Festival 2007
Dokfilmfest München 2007
Int. Filmfestival Innsbruck 2007
Publikumspreis Los Angeles Greek Film Festival 2007
Locarno Int. Film Festival 2007
Sarajevo Film Festival 2007

DVD erhältlich bei artfilm.ch

Geb. 1940 in Distomo, Zentralgriechenland.
10. Juni 1944: Massaker in Distomo mit 218 Toten. Aryris verliert seine Eltern und 30 weitere Familienangehörige.
1944–1949: Aufenthalt in Waisenhäusern in Piräus und Athen.
Ab 1949 bis zur Matura: wohnhaft im Pestalozzidorf in Trogen, Schweiz.

Danach Studium der Mathematik und Astrophysik, später Unterricht an Zürcher Gymnasien.
Ab 1980: Arbeit als Entwicklungshelfer in Nepal, Somalia und Indonesien.

1995: Argyris Sfountouris und seine drei Schwestern reichen Klage gegen Deutschland ein. Der Anspruch auf Entschädigung wird bis 2006 in drei Instanzen abgelehnt.
Jetzt ist die Klage am Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg hängig.

Seit den frühen 1990er-Jahren lebt er in Zürich und Athen.

Der Schweizer Filmemacher Stefan Haupt hat einen Dokumentarfilm über das Leben von Argyris Sfountouris gedreht: «Ein Lied für Argyris», erschienen 2006, Produktion Fontana Film GmbH.

Nomination Schweizer Filmpreis 2007 «Bester Dokumentarfilm»
Publikumspreis Dokumentarfilmfestival Thessaloniki 2007
Kyiv Contact Documentary Film Festival 2007
Dokfilmfest München 2007
Int. Filmfestival Innsbruck 2007
Publikumspreis Los Angeles Greek Film Festival 2007
Locarno Int. Film Festival 2007
Sarajevo Film Festival 2007

DVD erhältlich bei artfilm.ch

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