Eine Schweizer Hebamme im Gaza-Krieg
Die Schweizer Hebamme Tamara Bonc verbrachte kürzlich fünf Wochen im Feldspital des Roten Kreuzes in Gaza. Wie hat sie die Geburten im Kriegsgebiet erlebt?
Im Feldspital des Roten Kreuzes in Rafah, im Süden des Gazastreifens, sind manche Dinge einfach normal, sagt Tamara Bonc. Der abendliche Blick auf das Mittelmeer zum Beispiel.
Die Klinik, in der die Schweizer Hebamme im Oktober und November fünf Wochen lang im Rahmen einer Rot-Kreuz-Mission arbeitete, ist an der Küste gebaut, und wenn das Licht auf dem Wasser schwindet, sind die Sonnenuntergänge spektakulär.
«Man denkt: Ok, wenigstens einige Dinge kann man nicht ändern», sagt Bonc gegenüber SWI swissinfo.ch im grauen, vorweihnachtlichen Zürich.
Andere Zeichen der Normalität in dem 60-Betten-Spital: der pragmatische alltägliche Umgang mit den Frauen, die zur Untersuchung kommen; die Bandbreite der medizinischen Einrichtungen, die trotz des temporären Charakters des Ortes zur Verfügung stehen; die Freude an der Geburt; die Gespräche mit den Kolleginnen; das Scrollen durch die Newsfeeds; die Spannung auf die Ergebnisse der US-Wahlen.
Doch die vom Krieg gezeichnete Realität des Gazastreifens ist nicht weit entfernt. Schwangere Patientinnen kommen oft auf von Eseln gezogenen Karren an.
Viele Mitarbeiterinnen haben mehrere Jobs: Es gibt viel zu tun, und ausserdem brauchen sie Geld, da die Lebensmittelpreise hochschnellen. Den Neugeborenen droht Unterernährung. Das Krankenhaus ist zwar beeindruckend, besteht aber letztlich aus Zelten. «Es gibt nicht viel Privatsphäre», sagt Bonc.
Und nur wenige Wochen bevor die US-Wähler:innen zehntausend Meilen entfernt zu den Urnen gehen, wird Hamas-Führer Yahya Sinwar am anderen Ende der Stadt, in Rafah, von israelischen Truppen getötet.
«Wenn man sich nur den Sonnenuntergang anschaut, oder sogar die Menschen, die noch am Strand und im Wasser sind, kann man fast vergessen, was vor sich geht», sagt Bonc.
«Manchmal tut das gut. Aber wenn man sich umdreht und in die andere Richtung schaut, auf die Zerstörung und die riesigen Zeltlager, dann wird einem sehr klar, wo man ist.»
Ein Kinderwunsch: Hebamme zu werden
Bonc, 44, wollte nie etwas anderes werden als Hebamme. «Als ich fünf Jahre alt war, wurde ich wegen einer Mandeloperation ins Krankenhaus eingeliefert, und wir waren neben der Geburtsabteilung, das liess mich nicht mehr los», sagt sie.
Der Wunsch, mit Schwangeren zu arbeiten, war nicht der einzige Faktor. Es war auch die Unabhängigkeit, die der Job mit sich bringen kann.
Auch die soziale Bedeutung der Arbeit wurde ihr immer klarer, und es reifte die Erkenntnis, dass die Geburt nur ein kleiner Teil davon ist – genauso wichtig ist es, Eltern und Babys dabei zu helfen, sich zu Hause einzugewöhnen.
Nach ihrer Ausbildung im Jahr 2002 lebte Bonc in verschiedenen Städten der Schweiz. Sie begann, die praktische Arbeit am Krankenbett mit Beratungsaufgaben zu verbinden und engagierte sich auch im Schweizerischen Hebammenverband.
Doch sensible Seelen können sich in einem privilegierten Land eingeengt fühlen. «Ich hatte keinen Einfluss auf die Tatsache, dass ich hier in der Schweiz aufgewachsen bin», sagt Bonc.
Sie wollte mehr beitragen. Sie engagierte sich beim Roten Kreuz und wurde in einen Notfallpool von Expertinnen und Experten aufgenommen, die bei Bedarf in Krisengebiete gehen können.
Es folgten zwei Einsätze in Bangladesch – in Flüchtlingslagern, wo die Situation zwar schwierig war, aber keine Konflikte herrschten.
Dann kam im April 2024 der Anruf: Eine Hebamme wurde in Rafah benötigt, der Stadt im südlichen Gaza, wohin schätzungsweise zwei Drittel der Bevölkerung geflohen waren, nachdem der Krieg einen grossen Teil des restlichen Streifens verschlungen hatte.
«Ich habe einen halben Tag lang nachgedacht, mit meinem Partner darüber gesprochen und dann zugesagt.»
Das Feldspital in Rafah wurde im Mai 2024 vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz in Zusammenarbeit mit dem Palästinensischen Roten Halbmond und 12 nationalen Rotkreuzgesellschaften, darunter dem Schweizerischen Roten Kreuz, eingerichtet.
Das Spital mit 60 Betten bietet chirurgische Notfallversorgung, Geburtshilfe/Gynäkologie, Versorgung von Müttern und Neugeborenen sowie pädiatrische Versorgung. Es verfügt auch über eine ambulante Abteilung. Auch Kapazitäten zur Behandlung von Massenunfällen und zur Triage sind vorhanden.
Der Krieg in Gaza brach aus, nachdem Hamas-Kämpfer am 7. Oktober 2023 im Süden Israels knapp 1200 Menschen getötet und 251 weitere entführt hatten. Israel schlug mit massiven Bombardierungen und einer Bodeninvasion zurück; bis Anfang Dezember 2024 waren nach Angaben des von der Hamas geführten Gesundheitsministeriums fast 45’000 Menschen im Gazastreifen getötet und mehr als 100’000 verletzt worden.
Von den 36 Spitälern, welche die zwei Millionen Einwohner des Gazastreifens vor dem Krieg versorgten, sind nach Angaben der WeltgesundheitsorganisationExterner Link 17 noch teilweise funktionsfähig.
Drohnen, die ständig kreisen
Und so machte sie sich im Oktober auf den Weg. Von Zürich nach Amman, dann ein eintägiges Sicherheitsbriefing, eine langsame Reise durch das Westjordanland und Israel, eine schwer bewachte Einreise in den Gazastreifen und eine holprige Fahrt nach Süden in Richtung Rafah, nahe der ägyptischen Grenze.
Der Einsatz von etwas mehr als einem Monat ist kaum eine Ewigkeit – und doch kann es sich so anfühlen. Bonc arbeitet jeden Tag und ist rund um die Uhr in Bereitschaft. In fünf Wochen hat sie fünf Kilo abgenommen.
Sie verliert auch das Gefühl für die Zeit. «Man hatte uns gewarnt, dass eine Woche wie ein Monat ist», sagt sie. Und mit der allgemeinen Müdigkeit, den ineinander übergehenden Tagen, dem begrenzten Bewegungsradius – vom Krankenhaus zur Unterkunft und zurück – verschwimmt alles ein wenig.
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Hinzu kommt der Stress, ständig in höchster Alarmbereitschaft zu sein. Man weiss nie, wann man in einen mit Sandsäcken gefüllten Luftschutzkeller gehen muss. Die Geräusche des Krieges dringen durch: Bomben, Sirenen, Gewehrschüsse.
Doch was Bonc wirklich im Gedächtnis bleibt, ist das Summen: Drohnen, die ständig kreisen. «Nicht diese süssen kleinen Drohnen, sondern grosse, wie Rasenmäher.» Die Nächte sind nicht einfach.
Aber Bonc sagt, sie habe nie Angst gehabt. «Ich habe einfach darauf vertraut, dass es Menschen gibt, die auf uns aufpassen.» Daran änderten auch die Berichte über geplünderte Hilfskonvois und die Drohungen gegen humanitäre Helfer:innen nichts – zumindest für sie. In der Schweiz sind Familie und Freunde natürlich besorgt und freuen sich über beruhigende Whatsapp-Nachrichten.
So vergehen die Tage. Nach einem Start um 7.30 Uhr besteht Boncs Aufgabe hauptsächlich darin, die Arbeit der örtlichen Hebammen zu überwachen und bei Notgeburten einzuspringen. Das muss sie nicht oft tun: Das Personal – palästinensische Frauen – ist sehr gut ausgebildet, sagt Bonc.
Sie kennen auch die lokalen Gepflogenheiten besser als sie. So ist zum Beispiel die Arbeit mehr als in der Schweiz eine Frauenwelt: Nur zweimal taucht ein Mann auf.
Die Überwachung der Versorgung ist schwieriger. Antibiotika sind knapp; sie muss rationieren. Im Spital gibt es nur ein einziges Babybett; sie schafft es, ein weiteres zusammenzuschustern. Windeln sind seit Kriegsbeginn um einige hundert Prozent teurer gewordenExterner Link; waschbare Stoffwindeln sind eine kurzfristige Alternative.
Fassungslosigkeit und Unverständnis
Unterdessen geht der Krieg weiter. Der Beginn von Boncs Mission liegt eine Woche nach dem ersten Jahrestag der Hamas-Angriffe auf Israel am 7. Oktober.
Es kommt zu einer Reihe von grossen Ereignissen: Sinwar wird getötet (16. Oktober), Donald Trump gewinnt (6. November), Israel und die Hisbollah vereinbaren einen Waffenstillstand (27. November), Assad stürzt in Syrien (8. Dezember).
Was hält sie von all dem? Bonc zögert. Vor ihrer Reise nach Gaza, sagt sie, habe sie sich vor allem über die Geschichte der Region informiert. Sie wollte wissen, wie es überhaupt zu einem so unlösbaren Konflikt kommen konnte. Erst seit ihrer Rückkehr in die Schweiz habe sie sich in die Debatten eingemischt, sagt sie – zum Beispiel in Podcasts.
Als Rotkreuz-Delegierte darf sie aber nichts politisch Kompromittierendes sagen. Der unglaublich aufgeladene Charakter des Krieges in Gaza hat zu verbalen und physischen Angriffen auf Helfer:innen geführt.
Nicht nur auf die umstrittene UNRWA, sondern auch auf das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) mit Sitz in Genf, dem vorgeworfen wird, parteiisch gegenüber der palästinensischen Sache zu sein.
Nach einigem Nachdenken und einem Blick auf den Pressesprecher des Roten Kreuzes, der ebenfalls bei dem Interview in Zürich anwesend ist, sagt Bonc, dass sie nur «Unverständnis» empfinden kann – darüber, wie eine solche Tragödie geschehen konnte und warum die Welt sie zugelassen hat.
Natürlich weiss sie, dass es viele Konflikte auf der Welt gibt. «Aber wenn man einmal dabei war, wird man das Gefühl der Betroffenheit nicht mehr los», sagt Bonc. «So war es nach meinem ersten Einsatz in Bangladesch, so ist es immer, wenn ich zurückkomme.»
Und jetzt, wo sie zurück ist – in den hypermodernen Annehmlichkeiten und Weihnachtsmärkten von Zürich? Sie bleibt hier, zumindest für eine Weile. Sie braucht Zeit, um ihren Einsatz in Rafah zu verarbeiten und sich wieder an den Luxus und das Leben in einem der sichersten Länder der Welt zu gewöhnen.
In Zukunft wird sie jedoch wieder als Freiwillige arbeiten. Sie würde gerne wieder nach Gaza gehen, sagt sie. Allerdings am liebsten, wenn der Krieg vorbei ist. «Vielleicht könnte ich einfach an den Strand gehen und ihn mir noch einmal ansehen», sagt sie.
Editiert von Benjamin von Wyl/livm/ts, Übertragung aus dem Englischen: Giannis Mavris
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