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Einwohner der Schweiz bald gläserne Menschen?

Dank PIN: Der perfekte Mensch da Vinci's als "gläserner Bürger"? swissinfo.ch

In der Schweiz sollen alle Menschen eine einheitliche Kennnummer erhalten. Diese erleichtert Verwaltung und Behördenkontakt, begründet die Regierung.

Alles auf einen Klick: Der oberste Datenschützer warnt vor dem «gläsernen Menschen».

«Der Reihe nach Durchnummerieren!» Dieses rituelle Prozedere, bekannt etwa aus alten Tagen des Turnunterrichts, soll wieder auferstehen.

War aber ehedem eine überschaubare Turnklasse zwischen Sprossenwand und Schwedenkasten gemeint, hat die Schweizer Regierung jetzt das ganze Land im Auge: Jede Einwohnerin und jeder Einwohner soll eine einheitliche Kennnummer erhalten, wie der Bundesrat am 10. Juni entschieden hat.

Wie das Bundesamt für Statistik (BfS) erst jetzt bekannt gab, soll die neue und universelle Personen-Identifikationsnummer (PIN) die bisherige AHV-Nummer ablösen. Und mit ihr gleich auch noch alle anderen Kennnummern, unter denen Bürger X und Bürgerin Y bei den verschiedenen Ämtern registriert sind.

Zahlenvielfalt mal drei

Verschiedene Nummern gibt es beispielsweise bei der Steuerbehörde, dem Zivilstandsamt, im Ausweiswesen, beim Strafregister sowie in den Verzeichnissen über die ausländische Wohnbevölkerung oder Flüchtlinge.

Die dezentralisierte Aufteilung der Staatsebenen in Bund, Kantone und Gemeinden sorgt zudem für einen dreifachen Schub, was die Zahl der Registratur-Verzeichnisse angeht.

«Dieser Wildwuchs bei den Identifikationsnummern ist ineffizient und unverständlich. Eine einzige, für alle Register und Bereiche gültige Personenidentifikationsnummer kann diesen Missstand beheben», schreibt das BfS.

Gebe die bisherige AHV-Nummer Auskunft über Alter und Geschlecht der Person dahinter, verrate die neue PIN nichts dergleichen. Das Postulat des Datenschutzes sei also erfüllt, streicht die Behörde heraus.

Verletzung der Privatsphäre

Dem widerspricht der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte Hanspeter Thür vehement: «Bei einer universellen PIN besteht die Gefahr, dass Daten über eine Person verknüpft werden können und wir so zu ‹gläsernen Bürgern› werden.»

Das Innenleben dieses «gläsernen Menschen» sähe dann etwa so aus: PIN eingeben, und auf einen einzigen Mausklick tauchen Krankheiten, säumige Steuerrechnungen, eingereichte Beschwerden oder gar Vorstrafen innert Sekundenbruchteilen auf dem Bildschirm auf.

Thür bemängelt auch, dass der Bund für die PIN noch gar keine genaueren Zwecke definiert habe. «Man baut auch keine Autobahn, wenn nicht klar ist, ob es im fraglichen Gebiet auch Autos hat und man dort überhaupt Autos will», so der Datenschützer.

Mit PIN aus der E-Government-Krise?

Weiterer Pluspunkt eines PIN gemäss BfS: Mit einer eindeutigen Identifikationsnummer werde beispielsweise auch die Grundlage für E-Voting (Wählen und Abstimmen via Internet) geschaffen.

Mit der PIN könnten sich die Bürgerinnen und Bürger auch beim interaktiven Amtsschalter anmelden. Das Internet-Portal unter Ägide der Eidgenossenschaft hätte gemäss der E-Government-Strategie des Bundes erste Anlaufstelle sein sollen. Dort sollten Behörden-Informationen abgerufen und Formulare heruntergeladen werden können.

Bei der virtuellen Schnittstelle Bürger/Behörden deuten die Zeichen aber eher in Richtung realer Sackgasse denn verheissungsvoller und bequemer Online-Zukunft.

Halbherziges Engagement

E-Government ist in der Schweiz immer noch ein Stiefkind, so das Fazit einer Studie der Universität St. Gallen, welche im März vorgestellt wurde. Und noch schlimmer: Das Land habe punkto Online-Dienstleistungen von Behördenseite den internationalen Anschluss verpasst.

Studien der Europäischen Union (EU) und des Weltwirtschafts-Forums (WEF), in denen die Schweiz punkto benutzerfreundlichen öffentlichen Webauftritten zu den Schlusslichtern gehörte, wurden damit erhärtet.

Den Grund dafür orten die Autoren des St. Gallers «E-Government-Barometers» beim mangelnden politischen Willen. Die Mehrheit der Verwaltungen habe die Bedeutung von E-Government nicht voll erfasst.

Projektleiter Kuno Schedler bezeichnete das Engagement von Bund, Kantonen und Gemeinden zur Verbesserung des Angebots im Netz als «träge». Zur Illustration: Der Hälfte aller Gemeinden stehe ein Budget für Internetaktivitäten von lediglich 22’000 Franken zu Verfügung.

www.ch.ch auch politisch unter Druck

Die schlechten Noten für das E-Government Marke Schweiz schlägt sich auch politisch nieder: Der Bundesrat sieht sich mit fünf Vorstössen aus der grossen Parlamentskammer konfrontiert.

Der virtuelle Schalter www.ch.ch, die für Bund und Kantone geplante Plattform, hat bisher 18 Mio. Franken verschlungen. Mittlerweile steht aber fest, dass die Plattform als interaktiver Amtsschalter bereits tot ist – aus Kostengründen. «Erfolglos wie die Schweizer Skifahrer», heisst es lapidar in einem Bericht des Informatikstrategieorgans des Bundes (ISB).

So müssen alle, die einen Kontakt zu einer Schweizer Behörde suchen, wohl oder über auf Altbewährtes zurück greifen: Google. Bei der grössten Internet-Suchmaschine dauert es ganze 0,15 Sekunden, bis die Seite der Steuerverwaltung des Kantons Bern gefunden ist. Was will man mehr?

swissinfo, Renat Künzi

Die Schweiz kennt bisher nur die sektorielle PIN, beispielsweise die AHV-Nummer. Sie gilt nur für den Bereich der Sozialversicherungen.
Jetzt will die Schweizer Regierung für alle Leute eine einheitliche PIN einführen, die für alle Behörden und Bereiche gelten soll.
Das erleichtert den Kontakt zwischen Bürgern und Behörden, begründet der Bundesrat.
Für die Einführung einer PIN bedarf es einer Gesetzesänderung.
Eine PIN könne dem Datenmissbrauch Tür und Tor öffnen, kritisiert der Eidgenössische Datenschutz-Beauftragte (Stichwort «Gläserner Mensch»).
Einheitliche PINs kennen bereits 11 Länder in Europa. Erstmals wurden sie in den 1970er-Jahren in Skandinavien eingeführt.

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