«Elend und Leid sind mir Motivation genug»
Seit Jahrzehnten leistet der Schweizer Tropenarzt Martin Weber Hilfseinsätze in Krisengebieten, jüngst in Haiti. Seine zunehmende Verletzlichkeit ist ihm ein Indiz, dass er trotz 70 Einsätzen noch nicht abgestumpft ist. Ärgern tut er sich über zu viel Bürokratie.
Schon als Jugendlicher interessierte sich Martin Weber für fremde Welten und sog auf, was ihm unbekannt erschien. Bereits in jungen Jahren reiste er viel – nach Asien und Afrika. Bald war ihm klar, dass er einen Beruf erlernen wollte, der ihn mit Menschen zusammenbringt und nicht an die Schweiz bindet. So wurde er Arzt.
Als junger Mediziner begann er, Nothilfe in Katastrophengebieten zu leisten. Leidenschaftlich und mit grosser Überzeugung gibt er sich seither ein, im Wissen, dass nur einzelne Individuen oder Organisationen davon profitieren. «Mich interessiert bei zunehmender Technisierung und Computerisierung in der Medizin, was mit Empathie, Erfahrung und relativ wenig Material alles möglich ist.»
Auch wenn er in seiner langen Karriere viel Armut, Leid und Elend gesehen hat, fühlt er sich nicht abgestumpft. Im Gegenteil, die Verletzlichkeit nehme mit steigendem Alter zu. «Meine engste Umgebung habe ich gebeten, mir zu signalisieren, wenn ich mich zynisch über Einsätze oder Begegnungen äussern sollte – dann müsste ich aufhören.»
Mehrmals in Haiti
Nach Aufhören sieht es aber nicht aus. Eben erst kam der umtriebige Tropenarzt aus Haiti zurück, wo er für das Schweizerische Rote Kreuz und zusammen mit Médecins du Monde am Aufbau eines Cholera-Zentrums in Grand-Goâve im Südwesten des Landes beteiligt war.
Neuland war Haiti für ihn nicht. Schon 2008 hatte er nach dem Wirbelsturm und 2010 nach dem schweren Erdbeben längere Zeit auf der Karibikinsel gewirkt.
Vom haitianischen Volk ist Weber begeistert und tief beeindruckt. Ihn interessiert, wie die Bevölkerung in diesem verarmten Land, das sich in Sklavenaufständen gegen die Franzosen wehrte und vor 200 Jahren unabhängig wurde, mit Katastrophen umgeht und welche Strategien sie entwickelt hat.
Nach dem Erdbeben behandelte der 62-jährige Arzt in einem multinationalen Rotkreuz-Feldspital ausserhalb der Millionenstadt Port-au-Prince Notfälle. Und als im Oktober 2010 die Cholera ausbrach, reiste er für das SRK erneut auf die Karibikinsel.
Mangelnde Kooperation und Fehlplanung
Schon früh hatte er angesichts der miserablen hygienischen Bedingungen vor Epidemien gewarnt und die mangelnde Vorbereitung auf Seuchen kritisiert.
Überhaupt läuft nach Ansicht des erfahrenen Krisendoktors immer noch einiges falsch. Sowohl in Sachen Wiederaufbau wie auch im Gesundheitswesen. Er kritisiert die mangelnde Kooperation unter den 10’000 Hilfsorganisationen, die nach dem Erdbeben vor Ort waren. Die Hilfswerke stünden unter Druck, die gespendeten Gelder auszugeben, leider nicht immer dort, wo es am Nötigsten wäre.
Allgemein plädiert er dafür, die Messlatte tiefer zu setzen. Es bringe im Moment wenig, ein riesiges Schulhaus zu planen, das Jahre brauche, bis es realisiert sei. «Die Kinder brauchen jetzt etwas. Ihnen ist egal, ob sie in einem erdbebensicheren Bau nach Schweizer Standard zur Schule gehen oder in einem Container oder Zelt.»
Das gleiche gelte bei den Spitälern. «Bis der Bau eines grossen Spitals fertig ist und geeignetes, ausgebildetes Personal gefunden ist, gebären junge Frauen oftmals in den Trümmern und verbluten bei kleinsten Komplikationen. Das ist ein Skandal.»
Interner Brain-Drain
Schon vor dem Erdbeben seien die hygienischen und sanitarischen Verhältnisse mehr als prekär gewesen, das Gesundheitswesen in desolatem Zustand. Gut funktionierende staatliche Spitäler könne man an einer Hand aufzählen.
Laut Weber gibt es zwar gut ausgebildete Ärzte, die teils in Kuba studiert hätten, denen aber häufig die Praxis fehle. Gute Arbeit leisteten kirchliche Institutionen, die sich seit Jahrzehnten um die Behandlung von Kranken kümmerten.
Problematisch sei, so der Schweizer Arzt, dass ausländische Hilfswerke einheimisches Personal mit besseren Löhnen abwerben würden, die dann bei den Institutionen im Land fehlten. Es finde quasi ein interner Brain-Drain statt.
Diskrepanz zwischen Feld und Pult
Was Martin Weber immer mehr zu schaffen macht, ist die zunehmende Bürokratie und die wachsende Kluft zwischen Leuten, die «am Desk sitzen, und jenen im Feld». Er wünscht sich, dass mehr auf die Delegierten im Feld gehört würde.
Im Gegensatz zu früher hätten die Leute an den Hauptsitzen immer weniger Felderfahrung. «Sie werden in aufgeblasenen Apparaten vom ständigen Berichteschreiben, Sitzungen und ewigen Umstrukturierungen zerrieben.»
Entweder werde man Teil des Systems und panzere sich ein. «Dann schmeckt alles, was von aussen kommt, nach Kritik an der eigenen Leistung.» Oder man übe Kritik, was aber nicht einfach sei.
Der Rotkreuz-Idee verbunden
Ein «bisschen kritisch sein» ist aber kein Weg für den energischen und zielgerichteten Macher. Obwohl er sich dem SRK verpflichtet fühlt und «diese weltumspannende Rotkreuz-Idee grossartig findet», sieht er auch bei «seiner» Organisation ein gewisses Optimierungs-Potential.
So könnte er sich vorstellen, dass die Eidgenossenschaft zusammen mit dem SRK im Westen Haitis, wo die medizinische Versorgung katastrophal sei, ein Spital aufbauen hilft und sich längerfristig bei der Ausbildung des Personals engagiert und so den Nachwuchs sichert und dem mausarmen Land eine Perspektive gibt.
Und in der Schweiz plädiert der Rotkreuzarzt für einen medizinischen Pool, der aus speziell für Einsätze in Krisengebieten geschultem Personal besteht. «Eine Nationalmannschaft – ohne Gärtchendenken!»
Geboren 1948 in Bern.
1968-1975: Studium der Medizin an der Universität Bern.
1975-1984: Spezialisierung als Allgemeinpraktiker und Tropenarzt.
Ab 1973: Humanitäre Einsätze in Krisengebieten, u.a. Indonesien, Indien, Bangladesh, Tibet, Ghana, Kamerun, Sudan, Simbabwe, Kamerun, Rumänien, Bulgarien, Haiti.
Der Berner Tropenarzt ist für verschiedene Hilfsorganisationen tätig, vor allem aber für das Schweizerische Rote Kreuz SRK.
Bei dem verheerenden Beben am 12. Januar 2010 waren laut Schätzungen zwischen 225’000 und 300’000 Menschen ums Leben gekommen.
Zum Jahrestag sprach Minister-Präsident Jean-Max Bellerive von mehr als 316’000 Toten.
Mehr als 100’000 Gebäude wurden zerstört.
Weiterhin leben mehr als 800’000 Menschen in improvisierten Notunterkünften.
Eine Cholera-Epidemie, die im Oktober 2010 ausgebrochen war, fordert nach wie vor Opfer.
Haiti kämpft auch heute noch immer mit den Folgen des Erdbebens. Der Wiederaufbau kommt nur sehr schleppend voran.
Die haitianische Wirtschaft schrumpfte im 2010 um 7%.
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