Entwicklungshilfe – Akt einer kleinen Umverteilung
Wozu dient Entwicklungshilfe? Seit einiger Zeit löst diese Frage hitzige Debatten aus, auch in der Schweiz. Peter Niggli, Geschäftsleiter von Alliance Sud, fordert dazu auf, mit Realismus darüber nachzudenken, was Zusammenarbeit wirklich erreichen kann.
swissinfo: Herr Niggli, wann haben Sie das letzte Mal ein Entwicklungsprojekt besucht?
Peter Niggli: Mein letzter Besuch war in Südsudan, anfangs 2007. Den südsudanesischen Konflikt habe ich vor zwanzig Jahren als Journalist verfolgt und war jetzt zum ersten Mal nach dem Friedensschluss wieder dort.
Ich habe gesehen, wie die katholische Kirche als einzige einigermassen selbstständige Institution während des Krieges versucht hat und auch jetzt noch versucht, den Leuten ein Minimum an Überlebenschancen zu garantieren.
Das bezieht sich auf bescheidene Gesundheitsdienste, auf ein bisschen Bildung und auf Versuche, die Ernährungssituation zu verbessern. Das ist sehr wenig, aber sehr eindrücklich. Diese Aktivität wurde unter anderem von Caritas Schweiz unterstützt.
swissinfo: Gerade die Entwicklungshilfe in Afrika wird seit einigen Jahren stark kritisiert.
P.N.: Es gibt hier gewisse Missverständnisse. Viele Leute denken, die Entwicklungshilfe habe vor allem Afrika geholfen. Das stimmt nicht. Historisch gesehen ist sehr viel Geld in die ostasiatischen Staaten geflossen, die als Verbündete der USA als Bollwerk gegen China und die Sowjetunion dienten.
Das zweite Missverständnis ist, dass man sagt: «Ihr habt viel Geld gegeben, aber Afrika ist immer noch bettelarm oder sogar schlechter dran als früher». Niemand kann beweisen, dass es ohne Hilfe nicht noch schlimmer wäre.
swissinfo: Kann man die Erfolge der Entwicklungshilfe beweisen?
P.N.: In der Bildung wurden nachweislich Erfolge erzielt. Die Grundschulbildung hat sich in allen Entwicklungsländern, vor allem in Afrika, massiv ausgebreitet, unter anderem dank der Entwicklungshilfe.
Auch wurden klare Erfolge im Gesundheitsbereich erzielt. Einzelne Krankheiten konnten in den letzten 50 Jahren durch gezielte Impfkampagnen oder hygienische Massnahmen ausradiert werden.
Kleinbauern wurde geholfen, die Böden zu stabilisieren, ihre Fruchtbarkeit ein bisschen zu erhöhen, ihre Produkte auf die lokalen Märkte zu bringen. Diese Prozesse sind aber nicht immer flächendeckend, sondern vielerorts nur lokal oder regional, weil die Mittel beschränkt sind.
swissinfo: Warum kam es gerade jetzt zu dieser massiven Kritik an der Entwicklungshilfe? Welche Ziele verfolgt die Kritik?
P.N.: Kritik an der Entwicklungshilfe gab es immer wieder. Die neue Welle entstand im Rahmen der Diskussionen um die Milleniums-Entwicklungsziele der UNO – vor allem dann, als klar wurde, dass ein grosser Teil der westlichen Regierungen auch Taten folgen lassen wollte.
Die Kritik hat ein eindeutiges Ziel: Nämlich das Entwicklungsbudget zu schmälern oder zu mindest zu verhindern, dass es erhöht wird.
Zur Kritik selber kann noch dies gesagt werden. Die staatliche Entwicklungshilfe ist ein Instrument der Aussenpolitik der Industriestaaten. In der Geschichte der Entwicklungshilfe schwankten die Industriestaaten immer zwischen einem Einsatz des Geldes für die tatsächlichen Entwicklungs-Erfordernisse und einer Instrumentalisierung dieser Gelder für die eigenen aussenpolitischen und wirtschaftlichen Interessen.
In diesem Sinne ist Kritik an der Entwicklungshilfe sinnvoll. Aber genau diese Instrumentalisierung wird von den Fundamentalkritikern unterschlagen.
swissinfo: Was kann man eigentlich von der Entwicklungshilfe erwarten?
P.N.: Entwicklungshilfe leisten wir, weil wir in einer Welt leben, wo es eine kleine Insel von Reichen in einem grossen Meer von Armen gibt. Sie ist Ausdruck davon, dass wir denken, diese Kluft könne man auf die Länge nicht tolerieren. Ich halte es für einen selbstverständlichen Akt einer kleinen Umverteilung.
Was Entwicklungshilfe nicht kann, ist dafür zu sorgen, dass in den armen Ländern vernünftige Regierungen gebildet werden, die eine gute Wirtschaftspolitik entwickeln. Sie kann nur subsidiär helfen. Sie kann die Bemühungen solcher Regierungen unterstützen oder sich bemühen, direkt an die Armen zu kommen und ihr Los etwas zu verbessern.
Entwicklungshilfe heisst nicht, dass Helfer aus dem Norden ganze Länder aus der Armut herausbringen können. Dafür ist auch zu wenig Geld da. Um die Grossenordnung in Erinnerung zu rufen: In der aktuellen Finanzkrise wurden innert kurzer Zeit 1000 Mrd. Dollar verbraten. Afrika hat in den letzten 50 Jahren 600 Milliarden erhalten.
swissinfo: In Ihrem Buch «Der Streit um die Entwicklungshilfe» unterstreichen Sie die Wichtigkeit der Milleniumssziele der UNO. Sind diese nicht zu vage formuliert?
P.N.: Vage ist nur das achte Ziel, wo die Verpflichtungen der Industriestaaten definiert sind. Sieben Ziele sind relativ klar ausformuliert: Man möchte die Zahl der Ärmsten, die mit weniger als einem Dollar pro Tag leben, bis 2015 halbieren. Man will den Schulzugang für Mädchen auf der Sekundarstufe gleich haben wie jenen für Knaben, usw.
Die Ziele postulieren, dass mehr Geld in bestimmte öffentliche Güter investiert werden soll, nämlich in die Gesundheit, die Bildung und die Wasserversorgung. Wir finden, diese Ziele sind ein Fortschritt, weil sich alle Staaten darauf verständigt haben und einen bestimmten Druck ausüben.
swissinfo: Alliance Sud hat eine Kampagne lanciert zur Erhöhung der öffentlichen Entwicklungshilfe auf 0,7% des Bruttoinlandeinkommens. Etwa 180’000 Personen haben eine entsprechende Petition unterschrieben. Glauben Sie, dass der Vorschlag auch politisch etwas bewirkt hat?
Das Parlament wird im Sommer und Herbst über die Rahmenkredite für die Entwicklungszusammenarbeit für die nächsten vier Jahre entscheiden. In diesem Zusammenhang muss es sich auch mit den Finanzhorizonten befassen.
Ein Ziel hat unsere Kampagne zumindest erreicht: Von einer Budgetkürzung ist heute praktisch nicht mehr die Rede. Das war eigentlich die Zielrichtung.
Bundesrat Blocher war noch in seiner Amtszeit davon ausgegangen, er könne eine 30-prozentige Kürzung durchbringen. Das, würde ich meinen, ist beendet. Ob es gelingt, eine Mehrheit im Parlament für eine Erhöhung zu gewinnen, ist im Moment offen.
swissinfo-Interview: Andrea Tognina
Peter Niggli, geboren 1950, ist seit 1998 Geschäftsleiter von Alliance Sud, dem Zusammenschluss von sechs grossen Schweizer Hilfswerken (Swissaid, Fastenopfer, Brot für alle, Helvetas, Caritas und Heks).
Niggli hat verschiedene Publikationen verfasst.
«Nach der Globalisierung, Entwicklungspolitik im 21. Jahrhundert». Rotpunktverlag.
«Der Streit um die Entwicklungshilfe – Mehr tun, aber das Richtige!», eben neu im Rotpunktverlag erschienen.
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