Erster Erdbebenversuch mit ganzem Haus
Erstmals haben Wissenschafter in der Schweiz ein ganzes Haus erschüttern lassen. Der Freiluft-Versuch soll genauere Erdbeben-Daten bringen.
Das Abbruchhaus im Wallis, vor der Einführung von Erdbeben-Normen erbaut, zeigte sich im Schüttel-Test stabiler als erwartet.
Wir stehen im ersten Stock eines typischen Schweizer Einfamilienhauses in Monthey, Wallis, dem erdbebengefährdetsten Kanton der Schweiz. Die Fenster sind ausgebrochen, die Räume leer. Bis auf zwei Maschinen und unzählige Kabel und Schläuche, die den Boden überziehen.
Plötzlich beginnt sich das Haus zu schütteln. Die Bewegungen sind gut sichtbar. So fühlt sich also ein Erdbeben an. Am ehesten ist das Gefühl zu vergleichen mit einem Fischkutter, dessen Motor das Schiff stark zum Vibrieren bringt.
Doch hier handelt es sich um ein festes Haus auf sicherem Boden, der sich im Umkreis von einigen Metern auch bewegt. Ein ungutes Gefühl.
Kräftig durchgeschüttelt
Hier in Monthey sind es zwei so genannte Schwingungs-Erreger oder «Shaker», die das Haus durchschütteln. Die beiden Maschinen können zusammen etwa die Kraft eines Erdbebens der Stärke 3 auf der Richterskala simulieren. Sie werden sonst zum Testen der Festigkeit von Brücken oder Staudämmen eingesetzt.
Verantwortlich für den ersten Freiluft-Versuch ausserhalb eines Labors ist Olaf Huth von der Eidgenössischen Materialprüfungs-Anstalt (EMPA).
«Wir versuchen, das Gebäude in seinen Eigenfrequenzen zu erregen, erzeugen damit eine Resonanz», erklärt er gegenüber swissinfo.
Verschiedene genaue Messinstrumente liefern laufend Daten in den Computer. Es geht darum, das Haus auf seine Standhaftigkeit im Falle eines Erdbebens zu charakterisieren.
Denn noch immer ist die horizontale Kraft, die bei Erdbeben auf Gebäude einwirkt, eine grosse Unbekannte.
Geringer Schaden
«Mit dem Schwingen im Resonanzbereich können wir dem Ziel nahe kommen, das Gebäude zu schädigen», betont Huth. Dies allerdings will nicht so ganz gelingen. Das Haus, erbaut in den 1960er-Jahren, als noch keine Vorschriften bestanden, will sich den auf Maximalkraft laufenden Maschinen nicht beugen.
Wichtig für die Stabilität eines Gebäudes ist dessen Dämpfung. Das heisst, wie starke Stösse ein Haus selber absorbieren kann. Eine Dämpfung von rund 5% ist der Normalfall. Das Haus in Monthey aber weist laut ersten Messungen eine Dämpfung von 6 bis 7% auf.
«Die maximal gemessene Verformung beträgt 0,3 Millimeter», sagt Huth. «Hinsichtlich Erdbeben-Einwirkung kann man sagen, das Haus ist doch relativ sicher.»
So sicher, dass auch Journalisten den Versuch ohne Helm im Haus miterleben können. «Bitte schliessen Sie daraus aber nicht, dass diese Stabilität für alle älteren Schweizer Häuser gilt», gibt Huth zu bedenken.
Grossteil ungenügend
Dies ist ein wichtiger Punkt für die Forscher. Sie betonen, dass fast 90% der Schweizer Häuser vor 1970 erbaut wurden und daher vielfach ungenügend gegen Erdbeben geschützt sind.
Es gehe nun darum, vom Einsturz bedrohte Gebäude zu «ertüchtigen».
«Man muss diese beurteilen», sagt Professor Masoud Motavalli, Leiter der Abteilung «Ingenieur-Strukturen» an der EMPA.
«Vor allem die bestehenden wichtigen Gebäude wie zum Beispiel Schulen, Feuerwehr-Gebäude oder Spitäler, die in der Vor-Erdbebennorm-Zeit gebaut wurden.»
So habe sich beispielsweise der Einbau von Stahlbeton-Tragwänden oder Erdbeben-Isolatoren für die Erdbeben-Ertüchtigung von älteren Bauwerken als erfolgreich erwiesen.
Einsatz im Erdbebengebiet
Der aus Iran stammende Motavalli kennt sowohl die Schweizer Bausubstanz wie auch die Bauweise in Iran und Pakistan. «Es gibt relativ grosse Unterschiede, zum Beispiel bei der Betonfestigkeit.» Diese sei dort viel geringer als in der Schweiz.
Noch grösser sei der Unterschied beim Mauerwerk, wo das Problem der Mörtel zwischen den Steinen sei. «Er ist viel schwächer als der Zement bei uns, ist oft aus Lehm und hat nur geringe Festigkeit.»
Daher engagiert sich die EMPA mit einer Assistenzprofessur Motavallis an der Universität Teheran für den Schutz vor Erdbebenschäden, indem das Schweizer Wissen weitergegeben wird. Dazu gehören später auch die in Monthey gesammelten Daten, die in etwa einem Jahr ausgewertet sein werden.
Das Haus in Monthey ist trotz seiner soliden Schweizer Bauqualität dem Tod geweiht. Olaf Huth möchte die Chance nutzen, und dem Abbruch-Haus in einer zweiten Phase mit grösseren Maschinen nochmals zu Leibe rücken.
swissinfo, Christian Raaflaub, Monthey
Vor 1970 war erdbebensicheres Bauen in der Schweiz kein Thema.
1970 trat eine erste einfache Norm in Kraft.
Seit 1989 existiert eine umfassendere Norm.
2003 wurde diese ergänzt und erweitert.
Die schweren Erdbeben in Pakistan und Indien haben wieder einmal in Erinnerung gerufen, dass auch die Schweiz erdbebengefährdet ist.
Forscher der Eidgenössischen Materialprüfungs-Anstalt wollen nun mehr Daten über das Erdbeben-Verhalten typischer Schweizer Häuser sammeln.
Dazu haben sie in einem Abbruch-Objekt im Wallis zwei so genannte «Shaker» installiert, um das Haus in Schwingung zu bringen und Tests durchzuführen.
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