«Europa muss seine Werte verteidigen»
Dick Marty ist Sonderberichterstatter des Europarats zu den geheimen CIA-Flügen und Gefängnissen. Im swissinfo-Gespräch plädiert er dafür, den Terrorismus rigoros und ohne Verletzung der Menschenrechte zu bekämpfen.
Der Schweizer Parlamentarier ist überzeugt, dass gewisse Regierungen seinen Bericht in Misskredit bringen wollen.
Marty stellt seinen Bericht über die Gefangenen-Geheimflüge und die geheimen Gefängnisse am Dienstag dem Plenum des Europarats vor.
swissinfo: Ihr Bericht hat bei den betroffenen Staaten viel Lob, aber auch einige Kritik geerntet. Haben Sie damit gerechnet?
Dick Marty: Ich habe diese Aufgabe mit grosser innerer Überzeugung übernommen. Es ging mir um die Verteidigung von Werten, die es der europäischen Zivilisation ermöglichten, in den letzten 60 Jahren einen entscheidenden Schritt vorwärts zu kommen.
Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges hat Europa durch die Ratifizierung der Menschenrechtskonvention und die Einrichtung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte grosse Fortschritte erreicht. Das sind wie Schutzdämme, die einen Rückfall in die Barbarei verunmöglichen.
Der Europarat garantiert diese Werte. Es ist somit normal, dass er sich um die Geheimflüge kümmert. Der Europarat fordert schon lange einen entschiedenen Kampf gegen den Terrorismus. Aber dieser muss mit rechtsstaatlichen und nicht mit illegalen Mitteln geführt werden.
swissinfo: Illegale Praktiken sind gemäss Ihrem Bericht für die US-Verwaltung eine Selbstverständlichkeit gewesen.
D.M.: Tatsächlich hat die amerikanische Verwaltung den Begriff «rendition» geprägt. Dieser bedeutet in der Praxis, dass man Verdächtigte gefangen nehmen kann, ohne dass der Verdacht durch Rechtsinstanzen abgeklärt wurde.
Nur teilweise gelangen diese Personen in bekannte Gefangenenlager wie Guantanamo oder Kabul. Ansonsten verschwinden sie in anderen Lagern oder werden an ihre Herkunftsstaaten ausgeliefert, wo sie häufig gefoltert werden. Wer einen Rechtsstaat verteidigt, kann nicht hinnehmen, dass diesen Personen nie ein rechtsstaatliches Verfahren gewährt wurde.
Die US-Administration hat immerhin eine klare Entscheidung getroffen. Diese lautet: Gegen den Terrorismus befinden wir uns in einer Kriegssituation. Daher lässt sich das zivile Strafgesetzbuch nicht anwenden. Doch auch das Kriegsrecht wird nicht angewendet, angefangen bei der Genfer Konvention.
swissinfo: Die USA sehen sich, wie die europäischen Staaten, als Verteidiger von Freiheit und Menschenrechten.
D.M.: Die USA bleiben für mich ein freies und demokratisches Land. Aber im internationalen Kontext legen die USA ein zweischneidiges Verhalten an den Tag. In ihrer juristischen Mentalität machen sie einen Unterschied zwischen sich selber und den anderen.
So werden die Massnahmen gegen den Terrorismus nicht auf die eigenen Bürger angewendet, sondern nur auf Ausländer ausserhalb des eigenen Territoriums. Das ist eine absolut unerträgliche Form juristischer Apartheid. Die Amerikaner haben eine ganz einfach Philosophie entwickelt: Demnach sind alle Mittel erlaubt, wenn es dem amerikanischen Volk dienlich ist.
swissinfo: Die USA behaupten immer wieder, dass sich der Terrorismus nicht mit konventionellen Mitteln besiegen lässt. Leuchtet dies nicht ein?
D.M.: Persönlich bin ich der Auffassung, dass die von den USA verwendeten Mittel in den letzten Jahren nicht nur ineffizient, sondern auch kontraproduktiv waren. Die USA bringen die muslimische Welt gegen sich auf und schaffen so Sympathisanten für den Terrorismus. Diese Sympathisanten sind wie Sauerstoff für ein Feuer: Je mehr Sympathisanten es gibt, umso mehr fühlen sich die Terroristen für ihre Aktionen legitimiert.
Auch die europäischen Staaten haben schmerzhaften Erfahrungen mit dem Terrorismus gemacht. Doch der Kampf gegen den Terrorismus wurde stets mit rechtsstaatlichen Mitteln geführt.
swissinfo: Gemäss Ihrem Bericht haben 14 Staaten in Europa den amerikanischen Geheimdiensten geholfen oder zumindest ein Auge zugedrückt.
D.M.: Die europäischen Staaten haben den Kampf gegen den Terrorismus seit einiger Zeit an die USA delegiert. So schaut man eben weg, wenn der Geheimdienst einer Supermacht agiert, auch wenn dabei die eigenen Werte verletzt werden. Dieses Verhalten besorgt mich sehr.
Ich werfe der westlichen Welt vor, nie offen über die Anti-Terror-Strategien diskutiert zu haben. Es gibt auf internationaler Ebene nicht einmal eine juristische Definition des Begriffs Terrorismus. Es ist daher dringend nötig, eine gemeinsame Strategie zu entwickeln, die nicht nur Repression, sondern auch Prävention und politische Intervention beinhaltet.
swissinfo: Was werfen Sie der Schweiz konkret vor, deren Verhalten Sie als «unterwürfig» gegenüber den USA bezeichnen?
D.M.: Ich war schockiert, wie leichtfertig die Schweiz die jährliche Überflugserlaubnis für die US-Flugzeuge erneuert hat, obwohl es bereits Indizien auf mögliche Missbräuche durch die Geheimdienste gab. Zur Erneuerung der Erlaubnis haben sich die Schweizer Behörden mit einer mündlichen Erklärung eines Funktionärs in Washington zufrieden gegeben, der einfach jegliche Verletzung des Schweizer Luftraums negierte.
swissinfo: Glauben Sie, dass Ihr Rapport von der parlamentarischen Versammlung des Europarats verabschiedet wird?
D.M.: Bis vor kurzem war ich sehr optimistisch. Aber inzwischen weiss ich, dass einige Länder intensiv daran arbeiten, die Korrektheit und Ehrlichkeit dieses Berichts in Frage zu stellen. Wenn für die Europa-Parlamentarier die Verteidigung ihres Landes wichtiger ist als die Verteidigung der Werte des Europarats, wird es wohl nicht so gut laufen.
swissinfo, Interview: Armando Mombelli
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
1945: Dick Marty wird in Lugano geboren
1974: Doktor der Rechtswissenschaften nach Studien in Neuenburg und Freiburg (Deutschland)
1975-89: Staatsanwalt des Kantons Tessin
1989-95: Mitglied der Tessiner Kantonsregierung
seit 1995: Tessiner Ständerat (freisinnig)
seit 1999: Mitglied des Europarats
seit 2005: Präsident der Rechts- und Menschenrechtskommission des Europarats
Im November 2005 hat «Human Rights Watch» die illegale Verhaftung und Verschleppung von mutmasslichen Terroristen durch den US-amerikanischen Geheimdienst in Europa angeprangert. Es soll auch Geheimgefängnisse gegeben haben.
Kurz darauf hat der Europarat Dick Marty beauftragt, diesen Vorwürfen auf den Grund zu gehen.
Marty hat am 7. Juni einen Bericht vorgelegt, der am 27.Juni vom Europarat diskutiert wird.
Demnach haben 14 europäische Länder die illegalen amerikanischen Geheimdiensthandlungen unterstützt oder zumindest geduldet.
Auch die Schweiz wird im Bericht kritisiert. Die jährliche Überflugserlaubnis sei verlängert worden, obwohl die USA die Hoheit des Schweizer Luftraums verletzt hätten.
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