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Experte fordert mutigere Schweizer Klimapolitik

Der rasche Zerfall des arktischen Meer-Eises, wie am Ward Hunt Ice Shelf in Kanada, ist ein Grund zur Sorge, warnt Stocker. Reuters

Die Schweiz sollte die Herausforderungen des Klimawandels anpacken und ein grünes Vorbild werden. Der führende Klimaexperte Thomas Stocker forderte an der Weltklimakonferenz in Genf den Einsatz des Landes für ambitiösere Ziele beim Schadstoffausstoss.

Der Schweizer Klimaforscher, der auch Co-Vorsitzender einer Arbeitsgruppe des Weltklimarats (IPCC) ist, hat am Montag einen Vortrag an der dritten Weltklimakonferenz gehalten.

Die einwöchige Veranstaltung wurde von der Weltmeteorologie-Organisation (WMO) und der Schweiz organisiert. Das Ziel der Konferenz ist, die Erfassung und gemeinsame Nutzung von Klimadaten zu verbessern.

Damit sollen im Hinblick auf die entscheidende UNO-Weltklimakonferenz, die im Dezember in Kopenhagen durchgeführt wird, wichtige technische Hilfsmittel bereitgestellt werden.

swissinfo.ch: Kann man an der Klimakonferenz in Kopenhagen mit einem ehrgeizigen Resultat rechnen?

Thomas Stocker: Schwer zu sagen. Schliesslich wird es an jedem einzelnen Land liegen, die Vorgaben einzuhalten.

Das Problem der Klimaerwärmung ist derart umfassend, dass sich alle Gesellschaften auf diesem Planeten damit beschäftigen müssen, gestützt auf einen klaren Zeitplan von Schadstoff-Reduktionen und Anpassungen.

swissinfo.ch: Glauben Sie, dass die politischen Bemühungen, die globale Erwärmung bis 2050 auf zwei Grad zu begrenzen, erfolgreich sein werden?

T.S.: Wissenschafter hatten die Fakten und Zahlen bereits vor 30 Jahren auf dem Tisch, als ein solches Ziel noch mit relativ hartnäckigen aber schrittweisen Veränderungen in Produktionstechniken oder beim Energieverbrauch erreichbar gewesen wäre.

Doch dieses Ziel ist jetzt ehrgeizig geworden und kann ohne massgebliche Schritte vermutlich nicht mehr erreicht werden.

swissinfo.ch: Was sollte getan werden, um die Auswirkungen des Klimawandels möglichst effektiv zu lindern?

T.S.: Eine einzelne Massnahme löst das Problem nicht. Wir müssen einen Plan entwickeln, bei dem alle Sektoren der Gesellschaft ihren Teil am grossen Ziel beitragen, die Gesellschaft möglichst CO2-frei zu machen.

Wir müssen dazu die Material- und Energiekreisläufe so geschlossen wie möglich machen.

swissinfo.ch: Was halten Sie vom Vorschlag der Schweizer Regierung, den CO2-Ausstoss bis 2020 um 20% zu reduzieren – ausgerichtet auf die Ziele der Europäischen Union (EU)?

T.S.: Wir sollten den Klimawandel auch als grosse Chance sehen. Es ist klar, dass eine Gesellschaft mit weniger CO2-Ausstoss neue Technologien und Produkte braucht, die auf den Markt kommen.

Ein hoch industrialisiertes und innovatives Land wie die Schweiz sollte diese Chance packen, um Produkte zu entwickeln und zu einer Vorbild-Gesellschaft zu werden, in der der CO2-Verbrauch pro Kopf drastisch reduziert ist.

Ich finde eine klare Zielvorgabe bis 2020 und weiter bis 2050 eine gute Sache. Ein Vorbild sollte aber ambitiösere Ziele anstreben. Andere Länder in der Europäischen Union (EU) haben höhere Ziele ratifiziert. Schweden hat sich auf eine Reduktion von 30% verpflichtet, und wenn die EU die Reduktionen bis 2020 verwirklicht, will das Land auf 40% gehen.

Ich denke, wenn wir uns Mühe geben, können wir dies auch erreichen. Studien haben gezeigt, dass mit der Renovierung von Gebäuden viel erreicht werden kann, weil sie effizienter geheizt werden können. Auch die private Mobilität birgt noch viel Sparpotenzial.

swissinfo.ch: Welche Klimaveränderungen haben Sie seit dem vierten Bericht des IPCC 2007 beobachtet?

T.S.: Gewisse Elemente des Klimasystems wie beispielsweise der Umfang des arktischen Eises haben sich sehr stark verändert. Im September 2007 hatten wir eine rekordtiefe Eisdecke.

Gleichzeitig haben wir einen dramatischen Qualitätsverlust des Meer-Eises in dieser Weltgegend beobachtet. Die Menge an mehrjährigem Eis, dem beständigsten Eis, hat sich innert einem Jahr halbiert. Diese Region ist viel anfälliger geworden, was Anlass zur Sorge gibt.

Andererseits hat es Veränderungen im Klimasystem gegeben, die sehr genau untersucht werden müssen. Beispielsweise Variationen in der Sonneneinstrahlung und deren Einfluss auf das Klimasystem.

Ein dritter Punkt ist, dass der CO2-Ausstoss, ein wichtiger Faktor des Klimawandels, höher geworden ist als die sechs erläuternden Szenarien, die wir im letzten Bericht benutzt haben (Temperaturanstieg von 1,8 bis 4 Grad Celsius bis 2100).

Wir müssen herausfinden, ob das ein zwischenzeitlicher maximaler Anstieg des Ausstosses war, oder ob wir wirklich auf dem Weg sind, durchgehend so viele Schadstoffe auszustossen. Was bedeuten würde, dass wir die höchsten Szenarien korrigieren müssten.

swissinfo.ch: Die dritte Weltklimakonferenz in Genf hat zum Ziel, den Zugang zu Klimavoraussagen und Informationsdiensten zu vereinfachen. Werden Klimainformationen weltweit ungenügend gemeinsam genutzt?

T.S.: Es ist klar, dass es grosse Lücken in der Beobachtung des Klimasystems gibt, nicht nur bei den Temperaturen, sondern auch bei Niederschlägen, Wolken und anderen wichtigen Klimamerkmalen, die nötig sind, um Ökosysteme einzuschätzen.

In vielen Regionen der Welt gibt es grosse Lücken, weil Daten nicht erhältlich, nicht frei zugänglich oder gar nicht erfasst sind.

Ich bin sehr zuversichtlich, dass die hier vertretenen Mitgliedsländer der WMO diese Idee von «Klima-Services» aufnehmen werden, um die Menschen zu informieren und die bestmöglichen Informationen bereitzustellen, um ihnen zu helfen, sich dem Klimawandel anzupassen und dessen Auswirkungen lindern zu können.

Simon Bradley, Genf, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub)

Das Kyoto-Protokoll wurde 1997 von über 170 Nationen unterzeichnet oder ratifiziert. Mit diesem Abkommen haben sich bisher 37 Industrieländer verpflichtet, bis 2010 den Ausstoss der Treibhausgase um rund 5% zu senken.

2003 ratifizierte das Schweizer Parlament das Kyoto-Protokoll.

Da über 80% der schweizerischen Treibhausgas-Emissionen auf CO2 entfallen, hat die Schweiz ein spezifisches Reduktionsziel für dieses Gas festgelegt. Bis 2010 muss der Ausstoss gegenüber 1990 um 10% verringert werden.

Trotz den ambitiösen Zielen sind die Treibhausgas-Emissionen in der Schweiz seit 1990 bis heute um 0,4% gestiegen.

2000 trat ein CO2-Gesetz zur Erfüllung der Kyoto-Ziele in Kraft. Rund 1000 Unternehmen ergriffen freiwillig Massnahmen zur Verringerung ihrer CO2-Emissionen. 2005 wurde klar, dass diese Massnahmen zur Erreichung der Kyoto-Ziele nicht ausreichen.

Letzte Woche kündigte die Schweizer Regierung an, sie plane bis 2020 eine CO2-Emissionsverringerung um mindestens 20%, was den EU-Richtlinien entspricht.

Umweltgruppen und Mitte-Links-Parteien bezeichneten die Pläne als ungenügend und warfen der Regierung vor, sie habe dem Druck der Wirtschaft nachgegeben.

1959 in Zürich geboren.

1987 Professur in Naturwissenschaften an der Eidg. Technischen Hochschule Zürich (ETHZ).

Forschungstätigkeiten: University College London, McGill University (Montreal), Columbia University (New York), University of Hawai’i (Honolulu).

Als Co-Vorsitzender einer Arbeitsgruppe des Weltklimarates IPCC (seit September 2008) hat Klimaforscher Thomas Stocker wohl einen der begehrtesten Jobs der wissenschaftlichen Welt.

Stocker leitet auch die Abteilung Klima- und Umweltphysik an der Universität Bern, die im Bereich der Forschung über Treibhausgase zur Weltspitze gehört. Seine Gruppe misst die Konzentrationen von Treibhausgasen in Eisbohrkernen aus der Antarktis.

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