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«Friedliches Zusammenleben nicht erzwingbar»

Krieg im August 2008: Bewohnerin und russischer Panzer in der georgischen Stadt Gori. Keystone

Der Tagliavini-Bericht biete einen guten Ausgangspunkt für die weitere Befriedung des Russland-Georgien-Konflikts, sagt Friedensexperte Laurent Goetschel. Er bedauert, dass 2008 die Warnungen angesichts der Eskalation ungehört blieben.

swissinfo.ch: Der von der EU in Auftrag gegebene Bericht zum Konflikt um Südossetien zwischen Russland und Georgien liegt vor. Was kann er bewirken? Ist er ein Instrument der Befriedung?

Laurent Goetschel: Der Bericht allein wird nicht allzu viel bewirken. Aber immerhin hat ihn keine der beiden oder gar beide Seiten zurückgewiesen, was auch möglich gewesen wäre.

Im Gegenteil: Beide Seiten zeigten sich erfreut über den Bericht. Er ist eine gute Grundlage für weitere Schritte für die Befriedung.

swissinfo.ch: Jede Seite hat sozusagen diejenigen Stellen mit dem Leuchtstift hervorgehoben, welche die eigenen Positionen stützen. Kann so ein Dialog entstehen?

L.G.: Ich denke schon. Gerade deshalb, weil der Bericht so verfasst worden ist, dass ihn keine Seite abgelehnt hat. Diejenigen Abschnitte, die ihnen nicht passten, haben die Parteien mehr oder weniger unter den Tisch gekehrt.

Für allfällige weiterführende Dialogprozesse oder Vermittlungsbemühungen lassen sich gestützt auf diesen Bericht auch heikle Punkte thematisieren.

swissinfo.ch: Russland ist bestrebt, seinen Einfluss auch in der Ukraine und in einigen baltischen Staaten zu vergrössern. Könnte der Bericht auch dort als Grundlage dienen, Konfliktpotenzial einzudämmen?

L.G.: Ich denke nicht. Die Situation in Georgien ist insofern eine besondere, als Abchasien und Südossetien Teile eines unabhängigen Landes sind und sich von diesem loslösen wollen. Dabei wurden sie von Russland unterstützt.

In der Ukraine und in gewissen baltischen Ländern gibt es zwar starke russische Minderheiten, aber keine Gebiete, die sich parastaatlich zu organisieren versuchen.

swissinfo.ch: Wo liegt die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft in diesem Konflikt?

L.G.: Im Kalten Krieg war Europa aufgeteilt in eine westliche und östliche Interessenssphäre. Diese Sphären wurden nach Ende des Kalten Krieges stark aufgeweicht und haben sich verschoben. Trotzdem gibt es sie immer noch, sowohl vom Westen als auch vom Osten.

Bezüglich Georgien hat es Unsicherheiten zu diesen Sphären gegeben. Der Westen und die Nato signalisierten Georgien ein gewisses Entgegenkommen. Das führte dazu, dass sich das Land möglicherweise zu sicher fühlte und im Konflikt zu wagemutig wurde.

Russland seinerseits betrachtete Südossetien als vergleichbaren Fall zu Kosovo, wo der Westen als Geburtshelfer an der Entstehung eines unabhängigen Staates beteiligt war. Russland sah sich gegenüber Georgien in seiner Sphäre in derselben Rolle. Diese Unklarheiten und Missverständnisse haben zur Eskalation beigetragen.

swissinfo.ch: swisspeace, bis März 2008 in Georgien tätig, hatte schon länger vor einer Eskalation gewarnt. Wieso hat das Frühwarnsystem den Konflikt nicht stoppen können?

L.G.: Frühwarnsysteme sind immer nur so gut, wie die Adressaten bereit sind, Informationen zur Kenntnis zu nehmen und allfällige Empfehlungen umzusetzen. Das gilt insbesondere für ein unabhängiges Frühwarnsystem, wie es sie swisspeace mit FAST betrieben hat.

Zu den allermeisten Konflikten gibt es genügend Informationen, sie sind jedoch nicht genügend systematisch aufgearbeitet.

swissinfo.ch: Im Kaukasus sollten Abchasen, Georgier, Russen und Osseten ko-existieren. In Bosnien-Herzegowina Serben, Kroaten und Bosniaken, in Kosovo Serben und Kosovo-Albaner. Kann man ein friedliches Zusammenleben erzwingen oder ist das eine Illusion?

L.G.: Nein, ein friedliches Zusammenleben kann nie durch Druck von aussen entstehen. Es muss aus den entsprechenden Gemeinschaften heraus kommen. Von aussen kann man Rahmenbedingungen schaffen, die einen solchen Prozess begünstigen, oder auch erschweren.

swissinfo.ch: Die Schweiz bemüht sich immer wieder, bei Konflikten als Vermittlerin und als Friedensförderin aufzutreten. Geht es hier vor allem ums Image oder ist die neutrale, kleine Schweiz auch erfolgreich?

L.G.: Das eine schliesst das andere nicht aus. Im Falle der Schweiz ist es beides. Das Land hat die Tradition der Neutralität, die besagt, dass man bei Konflikten nicht Partei ergreift. Dafür hilft man, die humanitären Folgen der Konflikte zu lindern.

Später kam dazu, dass man vermittelnd und konfliktlösend eingreift. Dies gehört zum gewollten aussenpolitischen Image der Schweiz. Dabei kann sie nicht immer erfolgreich sein, aber wenn sie es ist, dann umso besser.

swissinfo.ch: Wo liegen die Stärken der Schweiz in den Bereichen Friedensvermittlung/Friedensförderung und Konfliktforschung?

L.G.: Bezüglich Mediation und Friedensschaffung hat die Schweiz ein Qualitäts-Image. Dieses basiert auf dem Leistungsausweis sowohl nach aussen wie auch im innern durch das friededliche Zusammenleben der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen.

Allerdings könnten wir die Erfahrungen, die wir im Inland in der Zusammenarbeit zwischen zivilen und militärischen Kräften besitzen, im Ausland stärker einbringen.

In der Konfliktforschung gibt es leider nur ein paar wenige Institutionen. Da liesse sich mehr machen und damit auch die Ideen und Instrumente, welche die Schweiz im Ausland einbringt, weiter verbessern.

Renat Künzi und Gaby Ochsenbein, swissinfo.ch

Im Auftrag des schweizerischen Aussenministeriums betrieb swisspeace von 2004 bis Ende März 2008 in Georgien das Frühwarnprogramm FAST (Frühanalyse von Spannungen und Tatsachenermittlung). Dessen Ziel war die De-Eskalation von Konflikten.

Aufgrund der Daten eines lokalen Informationsnetzwerks wurden regelmässig Updates zu konfliktiven, aber auch kooperativen Trends publiziert.

Die Daten stammten von lokalen Beobachtern in Abchasien, Südossetien und Georgien.

Die quantitative Analyse zeigte etwa, dass konfliktive Ereignisse jeweils im Sommer stark zunahmen.

Die Schweiz stoppte das FAST-Programm vor Ausbruch der Feindseligkeiten im August 2008.

In einer Evaluation hatte 2002 Professor Harald Müller, Leiter der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, FAST als «ein wissenschaftliches Produkt von absoluter Weltspitzenklasse» bewertet. Der Auftrag stammte vom Bundesamt für Bildung und Wissenschaft. Die jährlichen Gesamtkosten des FAST-Programms betrugen 1,6 Mio. Franken.

Im Nationalrat verlangte der grün-sozialistische Zuger Joseph Lang in einer Interpellation Auskunft über die Gründe der Einstellung des Programms.

Der Bundesrat antwortete, dass FAST zu wenig genutzt worden sein, dass das Programm nicht mehr den Bedürfnissen der Benutzern entsprochen habe.

Professor für Politik-Wissenschaft am Europa-Institut der Universität Basel und seit 2004 Direktor von swisspeace (ehemals Schweizerische Friedensstiftung).

Zuvor war Goetschel 2003 bis 2004 persönlicher Mitarbeiter von Bundesrätin Micheline Calmy-Rey.

Er leitet zudem die Arbeitsgruppe «Governance and Conflict» im Rahmen des Nationalen Forschungsschwerpunktes «Mitigating Syndromes of Global Change» (NCCR North-South).

Er war auch Leiter des Nationalen Forschungs-Programms «Schweizerische Aussenpolitik» (NFP 42).

swissinfo.ch

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