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Gefängnisse drohen aus allen Nähten zu platzen

Champ-Dollon: Die Medien müssen draussen bleiben. Keystone

In Schweizer Gefängnissen sitzen oft viel mehr Inhaftierte als vorgesehen, Insassen und Personal stehen unter Dauerstress. Am explosivsten ist die Stimmung in der Genfer Anstalt Champ-Dollon.

Die Genfer Kantonsregierung hat nun eine Expertengruppe eingesetzt. Amnesty International fordert eine generelle Änderung der Strafjustiz.

«Jeder weiss, dass Champ-Dollon ein Pulverfass ist.» Der Satz beunruhigt, umso mehr, als er von der Psychologin der Genfer Strafanstalt stammt. Dort sitzen knapp 500 Häftlinge ein. Vor drei Jahrzehnten war sie für 270 gebaut worden. Zwei Insassen teilen sich eine Einerzelle, Dreierzellen sind mit fünf Personen vollgepfercht.

Champ-Dollon ist kein Einzelfall, vielmehr die Spitze des Eisbergs. Laut Bundesamt für Justiz (BJ) sind die meisten Gefängnisse in der Schweiz ausgelastet oder leicht überbelegt. In Zahlen: Sie waren mit den 6111 Inhaftierten im Schnitt zu 93% ausgelastet (Kriminalstatistik 2005). 81% der Häftlinge stammten aus dem Ausland.

Auf Dauer kein Zustand

Die Überbelegung der Genfer Anstalt ist seit acht Jahren Dauerzustand. Kein Wunder, dass Champ-Dollon regelmässig in den Medien auftaucht, nicht zum Ruhm des Calvin-Kantons. Die Forderungen der Insassen sind immer dieselben: Bessere Behandlung, mehr Beschäftigung, längere Besuchszeiten, mehr Telefonate. Die Nervosität der Anstaltsleitung wird dadurch untermauert, dass sie Medienleuten untersagt hat, direkt mit Insassen in Kontakt zu treten.

Die letzten drei Kapitel in der langen Geschichte: Im Frühjahr drohten Champ-Dollon-Insassen mit Hungerstreik, um sich bei der Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen.

Anfang Mai revoltierten über 100 Häftlinge, indem sie sich weigerten, nach dem Spaziergang in die Zellen zurückzukehren. Die Meuterei wurde von der Polizei niedergeschlagen, drei Insassen wurden verletzt. Zuletzt legte im Juli ein psychisch kranker Insasse in seiner Zelle Feuer, er und ein anderer Häftling starben.

Massnahmen, die greifen sollen

Jetzt hat die Genfer Kantonsregierung reagiert. Eine Expertengruppe soll die Ursachen der Missstände ergründen und Vorschläge machen, wie diese zu entschärfen seien. Die Staatsanwalt rief die Polizeigerichte auf, mehr Fälle zu erledigen, was die Untersuchungs-Haft verkürzen sollte.

Der Genfer Anwalt Jean-Pierre Garbade, der vom Expertengremium konsultiert worden war, macht gegenüber swissinfo mehrere Problemfelder aus: Längere U-Haft, schnelle Anordnung dieser Massnahme und «besondere Organisation» der Genfer Strafprozess-Ordnung. Darin stimmen laut Maître Garbade alle Beobachter überein.

«Die durchschnittliche Dauer der Untersuchungshaft hat in Genf seit 1998 zugenommen, die Zahl der neu eintretenden U-Häftlinge dagegen abgenommen», sagt Garbade.

Doppelbelastung

Zweiter Punkt liege in den Besonderheiten des Strafprozess-Wesens. «Genf kennt im Gegensatz zu den Kantonen Bern, Zürich oder Basel keine Haftrichter», so der Anwalt. In den erwähnten Kantonen bestehe eine Aufgabenteilung zwischen Untersuchungsrichtern und Haftrichtern: Erstere definierten die Beschuldigungen, letztere prüften die Haftgründe, und dies innerhalb kurzer Fristen.

«Bei Einvernahmen haben die Genfer Untersuchungsrichter eine Doppelrolle, das bedeutet auch doppelten Aufwand», erklärt Garbade. Bei angenommenen 28 Fällen pro Tag fehle einem Untersuchungsrichter aber schlicht die Zeit, um über die jeweiligen Haftvoraussetzungen zu entscheiden.

U-Haft ist keine Strafe

Innerhalb von acht Tagen befindet die Genfer Anklagekammer über das weitere Schicksal des Angeschuldigten. In dieser Zeit kommen fast 40% der Genfer Untersuchungsgefangenen wieder frei. «Da stellt sich schon die Frage, ob die U-Haft wirklich notwendig war», bemerkt Garbade.

Inhaftierte Personen ohne Schweizer Wohnsitz blieben zudem häufiger in U-Haft, da die Genfer Behörden eher von Flucht- und Kollusionsgefahr ausgingen als ihre Kollegen in anderen Kantonen.

Darin spiegelt sich laut dem Anwalt Ausdruck eine «Mentalitätsfrage». «Oft wollen die Richter die Beschuldigten mit der U-Haft bestrafen, dabei ist die Massnahme keine Strafe», erklärt der Maître. Diese Haltung rühre daher, dass die Genfer Untersuchungsrichter vorher meist als Substitute (Stellvertreter) bei der Staatsanwaltschaft gewirkt hätten. «Sie kommen dann mit der Optik von Anklägern ins Amt.»

Asylpolitik

Auch die anderen grossen Anstalten der Schweiz – La Croisée (Waadt), Thorberg (Bern), Pöschwies sowie das Flughafen- und das Untersuchungsgefängnis (alle Kanton Zürich) – leiden unter Überbelegung.

Für Denise Graf von Amnesty International Schweiz (AI) ist dies auch die Folge einer «absolut repressiven» Asyl- und Ausländerpolitik. «Es sind sehr viele Menschen in Haft, die kein Delikt begangen, sondern bloss ein Asylgesuch gestellt haben.»

Genf auch Vorbild

Graf weist auch auf die hohen Kosten hin, welche die Überbelegung verursache. Gerade in den Ausschaffungs-Gefängnissen, wo ein Tag 350 bis 500 Franken kostet. «Es wäre viel sinnvoller, wenn die Kantone das Geld in individuelle Rückkehrprogramme für abgewiesene Asylsuchenden stecken würden», fordert Graf.

Ein solches Programm, wie es der Kanton Genf vorbildhaft anbiete, verursache einmalige Kosten von 5000 bis 6000 Franken, umfasse aber eine Zukunftsberatung und Unterstützung für die Betroffenen, lobt sie.

Graf erinnert aber auch an die menschlichen Kosten. Gefangenen-Betreuer berichteten immer mal wieder von Selbstmordversuchen oder Selbstverstümmelungen von Häftlingen. Zudem schade die unmenschliche Politik dem Ansehen der Schweiz, sagt die Menschenrechts-Spezialistin.

swissinfo, Renat Künzi

In den 122 Anstalten der Schweiz waren 6111 Menschen inhaftiert. Das sind 83 auf 100’000 Einwohner (USA: 700 auf 100’000).
Alle grossen Anstalten waren zu 100% oder mehr belegt.
81% der Insassen waren Ausländer (Zahlen BfS, Sept. 2005).
Die Überbelegung der Hauptgefängnisse hat einen «Stau» in den Untersuchungsgefängnissen zu Folge.
Gemäss Norm misst eine Einzelzelle 12 Quadratmeter. Diese ist bei Überbelegung unterschritten.

Das Genfer Kantonsparlament hat als Sofortmassnahme einen Kredit für einen Neubau für 68 Plätze in Champ-Dollon bewilligt.

Der Kanton Bern will 30 bis 40 zusätzliche Haftplätze in Containern einrichten.

Die Platznot wird auch durch die Tendenz zu immer mehr lebenslänglichen Verwahrungen verschärft.

Abhilfe sollte die Revision des Strafgesetzes ab 2007 bringen: Kurze Strafen können dann in Bussen oder Arbeitseinsätze umgewandelt werden.

Die Anstalten können auch mehr Verurteilte mit elektronischen Fesseln versehen.

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