Gute Nachricht für Minderheit von HIV-Positiven
Wenn die antiretrovirale Therapie wirkt, können HIV-Positive nach Absprache mit dem Arzt Sex ohne Kondom haben. Laut einer Studie besteht unter diesen Umständen kein Ansteckungsrisiko.
Die Kommission für Aidsfragen (EKAF) hält aber ausdrücklich fest, dass für alle anderen strikte die Safer-Sex-Regeln gelten.
Die Schweiz nehme weltweit mit ihren neuen Erkenntnissen eine Vorreiterrolle ein, sagte der Präsident der Eidgenössischen Kommission für Aidsfragen (EKAF), der St. Galler Professor Pietro Vernazza.
Eine funktionierende Behandlung der HIV-Infektion kann demnach das Präservativ ersetzen. Allerdings müssen drei Bedingungen erfüllt sein, damit das Virus tatsächlich sexuell nicht weitergegeben wird: Seit mindestens sechs Monaten muss die Therapie die Viren im Blut so gut unterdrückt haben, dass sie nicht mehr nachgewiesen werden können.
Die antiretrovirale Therapie muss durch den Patienten konsequent eingehalten und durch den Arzt regelmässig kontrolliert werden.
Kinderwunsch und Lebensqualität
Der Patient darf auch nicht von einer anderen sexuell übertragbaren Infektion betroffen sein. Die Entscheidung, ob der HIV-Virus sexuell weiter gegeben werden kann oder nicht, muss zudem in jedem Fall individuell mit dem behandelnden Arzt abgeklärt werden.
Für EKAF-Präsident Vernazza bedeutet dies für die Betroffenen eine massive Steigerung der Lebensqualität. In Frage kommt Sex ohne Kondom beispielsweise für ein Paar, in dem der eine Partner HIV-infiziert und der andere HIV-negativ ist, also ein so genanntes serodifferentes Paar.
Sie können auch Kinder zeugen, ohne dabei Angst haben zu müssen, dass der Nachwuchs mit dem Aids-Virus infiziert wird. Die Lebenserwartung unter einer funktionierenden antiretroviralen Therapie sei heute praktisch gleich wie bei einem Menschen ohne Aids.
Laut Vernazza war bereits seit Jahren aus epidemiologischen Studien bekannt, dass die Übertragung des Aids-Virus abhängig ist von der Viruskonzentration im Blut. Mit der antiretroviralen Therapie verschwinden die Viren aus dem Blut.
Zudem wurde festgestellt, dass das Virus bei der Therapie auch aus den Genitalsekreten verschwindet. «Aus epidemiologischen und biologischen Daten wissen wir schon lange, dass das Risiko einer Übertragung in diesem Fall sehr klein ist – wenn es überhaupt noch vorhanden ist», sagte Vernazza weiter. Die Wahrscheinlichkeit einer Infektion sei demnach heute so gering wie normale Lebensrisiken.
Keine Änderung bei Prävention
An der generellen Botschaft der Aids-Prävention ändert sich laut der Kommission des Bundes aber nichts: Bei Gelegenheitsbegegnungen und bei neuen Partnerschaften biete einzig die Einhaltung der Safer-Sex-Regeln Schutz, also das Eindringen immer mit Gummi und kein Sperma oder Blut in den Mund zu nehmen.
Wird aus der Begegnung eine feste Beziehung, kann nach drei Monaten konsequentem Schutz und gegenseitiger Treue ein Bilanztest gemacht werden. Nach Rücksprache mit dem behandelnden Arzt ist es dann allenfalls möglich, auf das Kondom innerhalb der festen Partnerschaft zu verzichten.
Jahrelange Studien
Bestehen parallel zur festen Partnerschaft noch weitere sexuelle Kontakte, so sind laut der Kommission die herkömmlichen Schutzmassnahmen wie Kondome aber nach wie vor ein Muss.
Die neuen Erkenntnisse wurde in mehreren Studien belegt. Eine davon wurde in Spanien durchgeführt. 393 heterosexuelle serodifferente Paare – also Paare, bei denen ein Partner HIV-positiv und der andere HIV-negativ ist – wurden dafür während 14 Jahren beobachtet.
Polemik ausgelöst
Die Forschungsergebnisse und vor alle ihre Auslegung haben in der Fachwelt eine hitzige Debatte ausgelöst. Deutsche und französische Experten haben die Feststellung als «verfrüht» bezeichnet. Sie fürchten, damit könne ein falsches Signal an die Bevölkerung und an die Betroffenen gehen, was Prävention vor Aids angeht.
Vernazza sagte gegenüber swissinfo, dass «nach zehn Jahren Aids-Therapie mit null Übertragung jemand die Wahrheit sagen muss. Und das haben wir jetzt getan.»
Die Feststellung seiner Kommission werde in der Polemik nicht angefochten. Es gehe nur um die Frage: Dürfe man das sagen? «Wir wollen die Wahrheit sagen und sind davon überzeugt, dass dies mehr Vertrauen schafft als die Menschen falsch zu informieren», ist Vernazza überzeugt.
Die Aids-Therapie hat laut dem Professor in den letzten Jahren einen gewaltigen erfolgt verzeichnet. Sie habe gezeigt, dass wirksam behandelte HIV-Patienten unter bestimmten Bedingungen wieder angstfrei leben könnten. «Es wäre nicht adäquat, diese Information den Bretroffenen vorzuenthalten», so Vernazza.
swissinfo und Agenturen
2006 wurden 762 Menschen in der Schweiz positiv auf das HI-Virus getestet (2005: 723 Personen).
Seit dem Ausbruch der Aids-Epidemie sind in der Schweiz 29’355 Personen positiv auf HIV getestet worden.
70% davon sind Männer.
Davon haben 8588 die Krankheit (Aids) entwickelt.
5669 sind daran gestorben (4515 vor 1997).
Im letzten Sommer brachte Pfizer das antiretrovirale Medikament Selzentry (je nach Land auch Celsentri) auf den Markt. Die Tabletten sollen das HI-Virus daran hindern, sich in Zellen festzusetzen.
Am Mittwoch kündigte der Pharmariese an, die Lizenz kostenlos der Internationalen Partnerschaft für Mikrobizide (IPM) zur Verfügung zu stellen. Selzentry dient dabei als Basis zur Herstellung eines neuen Gels, das die Übertragung des HI-Virus in der Vagina verhindern soll.
Pfizer-Vizepräsident Jack Watters äusserte sich optimistisch über das Potenzial des neuen Medikaments, doch er warnte, dass es bis dahin noch ein weiter Weg sei.
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