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H5N1 deckt Mängel im Gesundheitswesen auf

Der Mangel an Koordination zwischen den Gesundheitssystemen erschwert insbesondere die Krankheitsprävention (swissinfo/C.Helmle) swissinfo C Helmle

Das öffentliche Gesundheitswesen untersteht in der Schweiz den 26 Kantonen. Der Mangel an Koordination könnte im Fall einer Pandemie schwerwiegende Konsequenzen haben.

Auch der Entscheid des Kantons Tessin, ein Rauchverbot in Gastrobetrieben zu erlassen, zeigt die Widersprüche im Schweizer Gesundheitswesen auf.

Mit überwältigender Mehrheit hat das Tessiner Stimmvolk am vergangenen Wochenende beschlossen, ein Rauchverbot in Gaststätten einzuführen. In der übrigen Schweiz wird man weiterhin in Restaurants rauchen können.

Sind Zigaretten und Passivrauch folglich nur südlich des Gotthards schädlich? Natürlich nicht, aber die Situation ist eine direkte Folge der Kantonshoheit im Gesundheitswesen.

Diese Aufsplitterung führt schon unter normalen Umständen zu Komplikationen. Doch dramatisch könnte die Situation zum Beispiel im Falle einer durch die Vogelgrippe erzeugten Pandemie werden. Das wäre der Fall, wenn das Virus H5N1 sich flächendeckend von Mensch zu Mensch übertrüge.

Offene Fragen

«Ein föderalistisches System hat immer Vor- und Nachteile», sagt Daniel Koch, Mitglied der Task-Force Vogelgrippe beim Bundesamt für Gesundheit. «Durch die an die Kantone übertragenen Kompetenzen sind wir nahe an den Leuten. Andererseits entstehen fraglos Koordinationsprobleme.»

Auf Grundlage des Epidemiegesetzes aus dem Jahr 1970 kann die Landesregierung in Ausnahmefällen die Aktivitäten der Kantone koordinieren. Zudem kann der Bund die Einführung bestimmter Massnahmen in den Kantonen verordnen.

Die Formulierungen im Epidemiegesetz sind allerdings sehr vage. Und es bleiben Zweifel, ob der Bund angesichts einer echten Notfallsituation ausreichend vorbereit wäre.

Die Expertengruppe, die den nationalen Anti-Pandemie-Interventionsplan ausgearbeitet hat, verlangt jedenfalls klarere gesetzliche Rahmenbedingungen für die Rolle des Bundes im Krisenfall.

Zerstückelte Gesundheit

«Die Aufgabenverteilung muss klarer definiert werden. Zudem braucht es eine Harmonisierung unserer gesetzlichen Instrumente mit denjenigen anderer Länder», sagt Daniel Koch.

Aber auch mit dem für 2008 erwarteten neuen Gesetz werden nicht alle Probleme gelöst. Zwar werden dem Bund im Krisenfall Koordination, Information und Aufsicht anvertraut. Doch die Umsetzung der Massnahmen unterliegt weiterhin den Kantonen.

«Mit 26 Kantonen werden wir 26 verschiedene Arten der Anwendung unserer Normen haben», betont Koch. Umgekehrt könne der Bund diese Aufgabe gar nicht übernehmen, da ihm die entsprechenden Mittel fehlten.

Kantone kämpfen gegeneinander

Die Grenzen des föderalistischen Gesundheits-Systems zeigten sich auch bei den jüngsten Auseinandersetzungen zwischen den Kantonen um Kompetenzzentren in der Spitzenmedizin. Die kantonalen Spitäler machen sich die besten Chirurgen und Transplantationsmediziner gegenseitig streitig.

In Bezug auf die Therapie nimmt die Schweiz weltweit einen Spitzenplatz ein. Doch in der Präventionsmedizin steht nicht alles zum Besten.

«Dank der Autonomie der Kantone sind viele interessante Einzelinitiativen entstanden. Doch es bleibt ein Problem, dass diese nicht untereinander koordiniert sind», sagt Reto Obrist, Direktor von Oncosuisse, einer Dachorganisation im Bereich der Krebsbekämpfung.

Der Mangel an Koordination wirkt sich insbesondere auf die Präventionsstrategie bei Krebs und Herz-Kreislauf-Krankheiten aus, die zwei Drittel der Todesfälle in der Schweiz verursachen.

So gibt es nur in neun Kantonen Krebsregister. «Auch wenn diese gute Arbeit leisten, werden sie nach unterschiedlichen Gesichtspunkten geführt, und reichen nicht aus, um ein vollständiges Bild der Situation zu haben», sagt Obrist.

Lange Wartezeiten

So fehlen bis heute epidemiologische Studien auf nationaler Ebene, die Hinweise liefern, warum bestimmte Krebserkrankungen in einigen Regionen der Schweiz verbreiteter sind als in anderen.

«Zur Zeit fällt tonnenweise medizinisches Datenmaterial an – bei Spitälern, Tarmed-Abrechnungen der Ärzte, etc. Doch diese Informationen können nicht landesweit ausgewertet werden, weil es keine Institution dafür die entsprechenden Kompetenzen hat», sagt der Oncosuisse-Direktor.

Die im Krebskampf aktiven Organisationen fordern aus diesem Grund ein Gesetz, das dem Bund mehr Kompetenzen in der Präventionsmedizin überträgt. Doch der Bund tritt auf die Bremse: Er befürchtet, dass neue Kompetenzen neue Ausgaben bewirken.

«Das Gesetz wird nicht vor 2012 kommen, vielleicht erst 2020. Es ist für uns zermürbend, so lange zu warten, wenn es um die Gesundheit der Bevölkerung geht. Aber das ist die Schweiz,» bilanziert Reto Obrist.

swissinfo, Armando Mombelli
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

In der Schweiz untersteht das öffentliche Gesundheitswesen der Kompetenz der Kantone. Daher gibt es 26 unterschiedliche Systeme.

Der Bund kann auf nationaler Ebene Massnahmen ergreifen zur Förderung und zum Schutz der Gesundheit.

Insbesondere kann der Bund im Kampf gegen übertragbare oder stark verbreitete Krankheiten aktiv werden. Zudem kann er Gesetze erlassen, wenn es um Lebensmittel, Medikamente, Drogen oder chemische Substanzen geht, die eine Gefahr für die Gesundheit darstellen.

Das Schweizer Gesundheitswesen kostet 48 Milliarden Franken im Jahr.

Die Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben in der Schweiz sind weltweit die höchsten nach den USA.

Für Prävention und gesundheitsfördernde Massnahmen geben der Bund und die Kantone zirka 1 Milliarde Franken im Jahr aus.

Die häufigsten Todesursachen in der Schweiz sind: Herz-Kreislauf-Erkrankungen (34%), Krebs (25%), Schlaganfall (8%) und Lungenkrankheiten (7%).

Angesichts der möglichen Gefahr einer Pandemie durch die Vogelgrippe arbeitet die Schweizer Regierung an der Revision des Epidemie-Gesetzes aus dem Jahr 1970.

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