Hängt die Justiz am Gängelband der Politik?
Am Mittwoch hat die Bundesversammlung den neuen Präsidenten des Bundesgerichts gewählt. Noch nie war die Wahl von so vielen Nebengeräuschen begleitet.
Persönlichkeit und politische Zugehörigkeit der Richter spielen für die Wahl in dieses Amt seit jeher eine wichtige Rolle.
Das hatte es seit der Gründung des Bundesgerichtes 1874 noch nie gegeben: Die 30 Richter in Lausanne und die 11 Magistraten am Eidgenössischen Versicherungsgericht in Luzern waren sich dieses Jahr bei der Nomination des künftigen Präsidenten dieser ehrenwerten Institution nicht einig geworden.
Tradition über Bord
Normalerweise wählen die beiden Räte alle zwei Jahre einen Präsidenten und einen Vizepräsidenten des obersten Gerichtshofes. Für die Parlamentarier handelt es sich um eine formale Bestätigung: Sie befolgen die Wahlvorschläge, die von den Richtern der beiden Häuser in Klausur erarbeitet werden.
Während über hundert Jahren galt dabei das Prinzip der Anciennität: Der amtsälteste Richter stellte sich als Präsident zur Verfügung, obschon das Präsidium nicht nur Ehren beinhaltet.
Wandel in Sicht
Der Präsident leitet das Kollegium, übernimmt repräsentative Pflichten und hat zusätzlich zum laufenden Geschäft jene Flut administrativen Kleinkrams zu bewältigen, der für das reibungslose Funktionieren einer Justizmaschinerie mit über 200 Mitarbeitenden unabdingbar ist.
Doch in den letzten Jahren kündigte sich ein Wandel an: Als vor zwei Jahren Richter Roland Schneider, der als Mitglied der Schweizerischen Volkspartei (SVP) rechtes Gedankengut vertrat, an der Reihe war, zeigten ihm die Kollegen die kalte Schulter. Nicht besser ging es dieses Jahr dem sozialdemokratischen Hans Wiprächtiger.
Während im ersten Fall die eigentlichen Gründe für den Gesinnungswandel nicht recht fassbar sind, hatte Gerichtskommentator Markus Felber im Vorfeld der Wahl erkläre, dieses Mal dürfte es das ungestüme Temperament sein, das dem Anwärter zum Verhängnis werden könnte.
Er selbst bezeichnete sich in einem Interview als zu «volkstümlich» für den Geschmack des Gerichtshofes.
Unerfreuliches
Für Schlagzeilen sorgt nicht nur die Wahl des Präsidenten. Letztes Jahr hatte sich der Richter und Ex-Präsident Martin Schubarth dazu hinreissen lassen, einen Journalisten anzuspucken.
Dieses Verhalten vertrug sich in den Augen der Kollegen nicht mit der Würde des Richteramtes. Martin Schubarth musste zurücktreten.
Animositäten auch bei den Richtern in Luzern: Mittlerweile ist das Klima so vergiftet, dass manche Richter nicht mehr miteinander reden. Das Ganze soll mit der Zuteilung der Gerichtsschreiber begonnen haben, die für die Redaktion der Urteile zuständig sind.
Die gegenseitigen Anschuldigungen lösten eine Untersuchung aus und beschäftigen sogar die parlamentarische Geschäftsprüfungskommission. Mit Rücksicht auf die Gewaltentrennung haben die Parlamentarier jedoch beschlossen, nicht einzugreifen. Nun hofft man auf eine interne Lösung.
Justiz und Politik
Was ist los am Bundesgericht? Für Nikolaus Linder, ein auf die Geschichte der Schweizerischen Justiz spezialisierter Jurist, ist die Sache klar: «Richter sind Menschen wie wir; sie tragen lediglich die Polarisierung, die sich auf nationaler Ebene in der Politik beobachten lässt, in die Gerichte hinein.»
Von einer plötzlichen Politisierung der Gerichte zu sprechen sei allerdings falsch, meint Linder. «Die schweizerische Justiz ist seit jeher eng mit der Politik verknüpft. Juristen, die Bundesrichter werden wollten, mussten bereits bei der Schaffung der Institution 1874 das politische Profil einer Bundesratspartei aufweisen».
So gilt wie für die Bundesräte auch für die 30 Bundesrichter eine Art “Zauberformel”, nicht nur für die Sprachzugehörigkeit (neben den Deutsch sprechenden Richtern ein rätoromanischer, mindestens zwei italienischsprachige und ein Dutzend französischsprachige Richter), sondern auch bezüglich politischer Gesinnung. Die 30 Richter in Lausanne und ihre 11 Kollegen in Luzern werden entsprechend der Parteiverteilung des Parlamentes gewählt.
Ein Interessenkonflikt?
Wer in der Schweiz Richterwürden erlangen will, muss also abgesehen von einer soliden Ausbildung und Erfahrung im richtigen Augenblick über die richtige politische Gesinnung verfügen.
Dieses Prinzip gilt auf allen Ebenen: Auch auf Kantonsebene werden die Justizbehörden vom Parlament gewählt, und in den Gemeinden werden dafür oft die Stimmberechtigten an die Urne gebeten. Massgebend sind in jedem Fall die Vorschläge der politischen Parteien.
Sind Politik und Justiz zu eng verbandelt?
Ist die enge Verbindung von Politik und Justiz für die Unabhängigkeit der Justiz nicht eine Gefahr? Nikolaus Linder verneint die Frage: «Die Justiz ist Ausdruck der Gesellschaft und lässt auch Widersprüche zu.“
So sorgt die proportionale Vertretung der politischen Kräfte für ein Gleichgewicht, das der Rechtsprechung zusätzlich Autorität verleiht.
Konflikte-Trennlinie
Neu ist die Trennlinie der Konflikte: in Bern sind es die Vertreter des linken Flügels der Sozialdemokraten und des rechten Flügels der Schweizerischen Volkspartei, die sich nicht einigen können; in Lausanne verläuft der Graben ebenfalls zwischen den beiden Extremen des politischen Spektrums.
Bereits werden Stimmen laut, die über mangelnde Konkordanz auch unter den Richtern des Kassationshofes klagen. «Dass kein Konsens mehr erreicht wird, ist typisch für unsere Zeit: Schliesslich machen gesellschaftliche Veränderungen vor der richterlichen Gewalt nicht einfach Halt.»
Linder erklärt weiter: «Die Auslegung der Gesetze ist auch eine Frage der Kultur. Ein Gerichtsurteil wird von der Einstellung des Richters beeinflusst.»
Der gehässige Ton, der die Debatte auf persönlicher Ebene beherrscht, ist nur Ausdruck dafür, dass sich das Klima generell verschärft hat.
swissinfo, Daniele Papacella
Übertragen aus dem Italienischen: Maya Im Hof)
Der neue Präsident des Bundesgerichts heisst Giusep Nay.
Der Christlichdemokrat Nay ersetzt Heinz Aemisegger. Er ist der erste Rätoromane, der das höchste Gericht für eine zweijährige Amtszeit präsidiert.
Zum Vizepräsidenten wählte die Eidgenössische Bundesversammlung Bernard Corboz.
Die Bundesrichter werden für eine Amtsdauer von 4 Jahren gewählt. Alle zwei Jahre wählen die beiden Stände in einer gemeinsamen Sitzung einen Präsidenten und einen Vizepräsidenten, welche die Führungs- und Repräsentationsaufgaben übernehmen. Im Zuge der Reformen der letzten Jahre wurde der Aufgabenbereich der höchsten richterlichen Instanz neu gestaltet.
Zwei neue Gerichte helfen mit, den Pflichtenberg abzutragen, der auf den dreissig Richtern in Lausanne lastet: das Bundesstrafgericht in Bellinzona und das Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen.
Für Fragen der Bundessozialversicherung ist seit rund einem Jahrhundert das Eidgenössische Versicherungsgericht in Luzern zuständig.
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