Holocaust-Debatte: Moral, nicht Geld im Zentrum
Der Streit um die nachrichtenlosen Vermögen stürzte die Schweiz in eine Krise. Laut dem Historiker Thomas Maissen ging es vor allem um die politische Moral.
In seinem neuen Buch «Verweigerte Erinnerung» analysiert Maissen die grösste aussenpolitische Krise der Nachkriegszeit.
«Verweigerte Erinnerung» – der Titel bezeichnet die Haltung des Schweizer Volks, das sich weigerte, die Erfahrung und traumatische Erinnerung der Juden in sein eigenes kollektives Gedächtnis aufzunehmen und als Teil der Schweizer Geschichte zu begreifen.
Stattdessen pflegte die offizielle Schweiz den Mythos eines Kleinstaates, der dank seiner bewaffneten Neutralität den Zweiten Weltkrieg unbeschadet überstanden hatte. In den Jahrzehnten des Kalten Krieges konnte sie an ihrem historischen Selbstverständnis festhalten. Dies änderte sich aber mit dem Zerfall des Kommunismus.
Heftigkeit des Konflikts vermeidbar
Die verbliebene Supermacht USA übernahm die Verantwortung für eine neue Weltordnung. Gleichzeitig nahmen die Amerikaner die Geschichtserfahrung der Juden in ihr eigenes Selbstbild auf. Der Holocaust erschien nunmehr als Mahnmal für eine Weltgesellschaft auf Basis der Menschenrechte und des Minderheitenschutzes.
Jüdische Organisationen wie der Jüdische Weltkongress brachten als Vertreter der Holocaust-Opfer die Restitutionsfrage in die internationale Debatte ein. In der Schweiz wurden nachrichtenlose Vermögen ab 1995 ein Thema. Es entstand ein Konflikt mit ungeahnter Eigendynamik. Auch weil viele Akteure eigene Ziele verfolgten.
Die emotionale Debatte zeigte, dass die Weltöffentlichkeit die Kriegsjahre anders interpretierte als die Schweiz. Gemäss der Aussensicht bestand etwa über das Raubgold eine Verbindung zwischen Auschwitz und der Schweiz. Maissens Studie zufolge war der Konflikt unvermeidlich. Dessen Heftigkeit wäre aber vermeidbar gewesen.
Keine Frage nach Gut und Böse
Gemäss Maissen ging es nicht – wie viele Schweizer meinten – um eine buchhalterische Frage, die sich bankintern abklären und durch eine bestimmte Summe abgelten liess. Es war auch keine Frage der Wahrheit, die an eine Expertenkommission delegiert werden konnte.
Letztlich sei es nicht um Wahrheit, Recht oder Geld gegangen, sondern um Moral. Maissen: «Das war in erster Linie eine moralische Frage nach Gut und Böse, nach richtigem oder falschem Handeln.»
Dabei hätte es eine vorzeitige Lösung für die Krise gegeben: die demütige Geste der Entschuldigung, das Eingeständnis, nicht nur aus der Not heraus, sondern aus eigener Unzulänglichkeit Fehler gemacht zu haben, die Teilnahme an der jüdischen Erinnerung sowie die Verpflichtung, daraus Konsequenzen zu ziehen.
Quittung für das Verhalten der Schweiz
Der Vergleich von 1998, der den Streit um die nachrichtenlosen Vermögen beendete, ist gemäss Maissen nicht oder nur zu einem kleinen Teil die Busse für Schweizer Fehler in der Vergangenheit. Die 1,25 Milliarden Dollar sind vielmehr eine Quittung für das Verhalten von Schweizern in den 1990er Jahren.
Beispiele sind der als arrogant empfundene Umgang der Bankiers mit Exponenten von jüdischen Organisationen, Affären wie jene von Bundesrat Delamuraz und Wachmann Meili sowie die unklare Haltung des Bundesrats.
Krise besser verstehen – eine Lektion
Maissens Studie ist ein wichtiger Beitrag zum Verständnis der grössten aussenpolitischen Krise der Schweiz in der Nachkriegszeit. Er beschreibt nicht nur sehr detailliert den Gang der Ereignisse, sondern bettet diese ein in die nach 1989 veränderte Weltlage.
Ihm gelingt es aufzuzeigen, wie zuerst die Banken und danach die ganze Schweiz das Vertrauen der Weltöffentlichkeit verloren. Dabei liefert er Lektionen für das Management aussenpolitischer Krisen. Konservative Kreise in Politik und Wirtschaft könnten daraus lernen, dass Schweizer Sonderwege immer mehr an Grenzen stossen.
swissinfo und Vincenzo Capodici, sda
Thomas Maissen: Verweigerte Erinnerung – Nachrichtenlose Vermögen und Schweizer Weltkriegsdebatte 1989-2004.
736 Seiten, 68 Franken.
Buchverlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich.
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