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«Ich bin ein emotionaler und ungerechter Fan»

Silvio Blatter: Fussballfan und Kunstschaffender. Petra Amerell

Der Schweizer Schriftsteller Silvio Blatter lebt zur Hälfte in Deutschland. Er pendelt zwischen dem zürcherischen Oberglatt und München. Die Fussballspiele hat er sich aber in München angeschaut, meist ganz allein.

swissinfo: Haben Sie sich alle Partien angeschaut?

Silvio Blatter: Zu Beginn des Turniers hatte ich meine Mannschaften, die mich interessiert haben: Portugal, Deutschland. Und ich wollte die Spanier sehen, weil man von denen viel geredet hat. Ebenfalls gespannt war ich auf die Holländer.

Die Spiele dieser Teams habe ich gezielt verfolgt, es gab aber auch Partien, die ich nicht sehen wollte. Ich bin ein sehr emotionaler und ungerechter Fan.

swissinfo: Haben Sie als Schweizer in Deutschland Mitleid oder gar Häme von den Deutschen gegenüber den armen Schweizern gespürt, als Köbi Kuhns Mannen schon nach den ersten zwei Gruppenspielen aus dem Turnier ausschieden?

S.B.: Häme nicht. Die Deutschen mögen uns, sie mögen unsere Sprache. Man hat als Schweizer in Deutschland gute Karten. Und dass die Deutschen besser sind im Fussball, ist klar.

swissinfo: Viele Schweizer, vor allem Deutschschweizer, freuen sich, wenn Deutschland verliert. Gehören Sie auch zu denen?

S.B.: Nein. Ich war schon als Kind Deutschland-Fan. Die Deutschschweizer haben so eine Art Unterlegenheitsgefühl gegenüber den Deutschen – vor allem, wenn es um Sprache geht. Sie denken, die Deutschen können sich besser ausdrücken, schneller reden, ein wenig so, wie man in anderen Kantonen dasselbe von den Zürchern denkt.

swissinfo: Mit Spannung hat man auch in der Schweiz die Halbfinalbegegnung zwischen Deutschland und der Türkei verfolgt. Insbesondere auch, weil sehr viele Türken in Deutschland leben. Wie war die Stimmung nach dem Ausscheiden der Türken?

S.B.: Es herrschte grosser Jubel hier in München, es gab viele Hupkonzerte, von Ausschreitungen habe ich nichts gehört. Ich denke, nach dem Ausscheiden ihres Teams wollen die Türken hier, dass Deutschland Europameister wird, denn sie sind integriert und fühlen sich ein Stück weit auch als Deutsche.

Man feiert gemeinsam weiter, das ist der grosse Verdienst der Fanmeilen. Fussball ist ein toller Sport, auch wenn die eigene Mannschaft ausscheidet.

swissinfo: Nach dem deutschen Sieg gegen die Türkei waren die Deutschen in der Schweiz sehr zurückhaltend – gefeiert wurde diskret, Hupkonzerte gab es kaum. Wie erklären Sie sich das?

S.B.: Die Deutschen hatten nach dem Zweiten Weltkrieg ziemlich Probleme mit Nationalismus, Patriotismus, Hymnen, Fahnen usw.

An der WM 2006 in Deutschland hat das dann gekippt, da hat man plötzlich Deutsche gesehen, die Nationalfahnen aufhängten, sich das Gesicht mit den Nationalfarben schminkten oder sich einen Deutschland-Hut aufsetzten.

Seit der WM 2006 gibt es einen neuen «Nationalismus», der aber mehr mit Party und Design als mit Patriotismus zu tun hat. Die Türken, die Italiener, die Amerikaner waren sowieso immer nationalbewusst.

swissinfo: Was sagen Sie als Fussballkenner zum Abschneiden der Schweizer Nati?

S.B.: Ich war über ihr Ausscheiden enttäuscht, aber nicht überrascht. Es wäre drin gewesen, den Viertelfinal zu erreichen, mehr nicht. Die Schweiz hat sich in den letzten zwei Jahren überhaupt nicht verbessert.

Wir sind zwar ein gutes Team, haben aber niemanden, der vorne Tore schiesst. Ein Stürmer wie Alex Frei kann das alleine nicht machen – und wenn er ausfällt, ist nicht einmal Ersatz da. So hat man überhaupt keine Chance, in einem solchen Turnier weiter zu kommen.

swissinfo: Gibt es für Sie ein absolutes Highlight?

S.B.: Nein, aber in einzelnen Spielen tolle Szenen. Für mich ist ein Highlight immer, wenn ich als Zuschauer emotional berührt werde. So ein Moment war, als man merkte, dass Alex Frei nicht mehr aufstehen konnte.

Oder als dieser Ball in der Wasserpfütze drin lag, und Yakin gestaunt hat, oder wie Buffon den Elfmeter gehalten hat, oder wie die Holländer zwei ihrer Tore machten, mit diesen Flanken, dann Kopfstoss, und er ist drin. Am besten hat mir das Spiel Deutschland-Portugal gefallen.

swissinfo: Es gibt Millionen Menschen, die mit Fussball nicht viel anfangen können, auch wegen des Kommerzes, den die UEFA darum macht. Haben Sie dafür Verständnis?

S.B.: Es sind verschiedene Dinge. Ich finde die Schweizer gut, die das Bier nicht trinken wollen, das man ihnen vorschreibt. Und diese Kommerzialisierung des Fussballs bis ins Letzte hat etwas, das einen abstösst.

Aber wenn im Fussball nicht derart viel Geld stecken würde, könnte man auch nicht so tolle Spiele sehen, wären auch die Übertragungen nicht da.

Das Geld, das im Fussball steckt, das Geld das der Fussball generiert, ermöglicht eben auch Sport auf diesem Niveau.

swissinfo: Die Schriftsteller und Schriftstellerinnen scheinen ziemlich gespalten zu sein, was Fussball anbelangt. Es gibt die Fussballmuffel, wie etwa Peter Bichsel. Sie, Wolfgang Bortlik und viele spanischsprachige Autoren sind Fussballfans. Wieso ist Ihre Gemeinschaft hier derart gespalten?

S.B.: Ich glaube, gerade in den spanischsprachigen Ländern ist mit Fussball auch so etwas wie eine Philosophie verbunden. Fussball gehört zur Kultur. Man kann über das Spiel schwärmen, dessen Schönheit, die Athletik.

In der Schweiz ist man da etwas skeptischer, weil sich bis vor 20 Jahren die Intellektuellen nicht mit Sport beschäftigten. Ich komme aus einer Sportlerfamilie, war selber Sportler, habe Leichtathletik gemacht, war Fussballtorhüter, habe Tennis gespielt. Für mich war Sport immer ein Teil meines Lebens.

Ich denke manchmal, dass sich die Leute, die sich so gegen den Sport sperren, sich der Schönheit und dem Spass verweigern, die da eben auch drinstecken. Aber ich würde mit keinem, der sagt, er hasse Fussball, über Fussball streiten.

swissinfo-Interview: Jean Michel Berthoud

Silvio Blatter (1946*) entstammt einer Arbeiterfamilie. Seine berufliche Laufbahn begann er als Lehrer, arbeitete aber auch für einige Zeit in der Industrie.

1972 begann er ein Germanistik-Studium, das er nach sechs Semestern abbrach.

1975 absolvierte er beim Schweizer Radio DRS eine Ausbildung zum Hörspielregisseur.

Nach längeren Aufenthalten in Amsterdam und in Husum liess er sich 1976 als freier Schriftsteller in Zürich nieder.

In den 1990er Jahren widmete sich Blatter vorwiegend der Malerei. Seit dem Jahr 2000 sind Schreiben und Malen wieder gleich wichtig für ihn.

Heute lebt er in Oberglatt im Kanton Zürich und in München.

Blatter ist Mitglied des Deutschschweizer PEN-Zentrums, dessen Vorsitzender er von 1984 bis 1986 war.

Bücher und Erzählungen:

– Brände kommen unerwartet, 1970
– Eine Wohnung im Erdgeschoss 1970
– Schaltfehler 1972
– Mary Long 1973
– Nur der König trägt Bart 1973
– Flucht und Tod des Daniel Zoff. Vorläufiges Protokoll eines ländlichen Tages 1974
– Genormte Tage, verschüttete Zeit 1976
– Zunehmendes Heimweh 1978
– Love me tender 1980
– Die Schneefalle 1981
– Kein schöner Land 1983
– Die leisen Wellen. Das Buch vom See 1985
– Wassermann 1986
– Das sanfte Gesetz 1988
– Das blaue Haus 1990
– Avenue America 1992
– Die Glückszahl 2001
– Zwölf Sekunden Stille 2004
– Eine unerledigte Geschichte 2006

Hörspiele/Radiosendungen

– Alle Fragen dieser Welt, DRS 1975
– Weihnachtsträume, DRS 1975
– Letschti Liebi (Dialektfassung des Hörspiels von Urs Ledergerber), DRS 1976
– Was schafft din Vatter? (Dialektfassung von Der Beruf des Vaters von Michael Scharang), DRS 1976
– Bologna kann warten, DRS 1981

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