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IKRK öffnet Nazi-Archiv in Deutschland

Das Archiv in Bad Arolsen in Hessen. Keystone

Mehr als 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs gibt das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) die Archive über den Holocaust für die Forschung frei.

Die Nazis führten genau Buch über ihre Aktivitäten, inklusive Gefangenen-Transporte, Zwangsarbeit und Experimenten an Lebenden. Über 50 Mio. Seiten füllen Ordner in einer Breite von 26 Kilometern.

Die alliierten Kriegsgegner begannen mit dem Sammeln von Dokumenten, lange bevor der Krieg zu Ende ging. Das Archiv befindet sich in Bad Arolsen im deutschen Bundesland Hessen.

An der Datensammlung des Internationalen Suchdienstes (ITS) sind elf Staaten beteiligt. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) verwaltet das Archiv.

Auch «Schindlers Liste» ist im Archiv

Das Archiv verwaltet mehr als 30 Mio. Dokumente über Verbrechen und Opfer des Nationalsozialismus. Darunter sind SS-Unterlagen, Suchkarten, Häftlingsbriefe und auch die aus dem Film bekannte «Schindlers Liste». Nach dem Grundsatzbeschluss zur Öffnung der Archive waren alle Dokumente digitalisiert und katalogisiert worden.

Die rechtliche Grundlage für die Öffnung ist inzwischen von allen Staaten ratifiziert worden. Bisher diente die Dokumentation vor allem dazu, Vermisste oder Verschleppte zu suchen oder Informationen für Entschädigungsforderungen zur Verfügung zu stellen.

Originaldokumente durften bisher nur vom Archivpersonal eingesehen werden. «Diese sind sehr alt und natürlich brüchig», sagt ITS-Sprecherin Iris Möker gegenüber swissinfo. Deshalb würden sie im Allgemeinen dem Publikum nicht gezeigt.

Doch Möker gibt auch zu, dass es manchmal lange dauere, bis Anfragen von Holocaust-Überlebenden und deren Familien beantwortet würden, auch wenn diese Leute immer das Recht auf Information hätten.

Die Griechen als letzte

Besonders das US-State Department drängte in den vergangenen Jahren auf ein Öffnen der Archive. Entschieden wurde dies im Mai 2006, doch musste zuerst die Ratifizierung aller elf Länder der ITS-Kommission abgewartet werden.

Das letzte Mitglied, Griechenland, tat dies nach offiziellen Angaben letzten Mittwoch.

Doch schon lange vorher nutzte das ITS Computertechnologie, um die Dokumente einfacher zugänglich zu machen. Im vergangenen Jahrzehnt sind auf diese Weise 70% des Archivmaterials digitalisiert worden – ein riesiges Unterfangen.

«Es braucht äusserst viel Zeit, weil die Dokumente sehr sorgsam angefasst werden müssen», sagt Möker. «Sie müssen von Hand einzeln herausgenommen, gescannt und wieder zurück gebracht werden.»

Forscher können nun, wenn sie das Archiv besuchen, an Computern arbeiten, die ihnen Zugang zu 30 Mio. Seiten verschaffen.

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IKRK

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) ist eine unparteiische, neutrale und unabhängige Organisation mit Sitz in Genf. Der Schweizer Henri Dunant hat das IKRK 1863 gegründet. Das Komitee hat ein permanentes Mandat, sich unter internationalem Recht um die Gefangenen, Verwundeten, Kranken und Zivilisten zu kümmern, die von einem Konflikt betroffen sind. Aus dem IKRK…

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Weitere Herausforderungen

Dennoch sind die Bedingungen nicht ideal: Bisher wurden die Archive nur für humanitäre Zwecke genutzt, und für individuelle Suchaufträge. Die Bedürfnisse von Geschichts-Forschenden hingegen sind anders, was ein grosses Problem darstellt.

«Wollten wir das Archiv nach historischen Kriterien restrukturieren, müssen wir zuerst darüber sprechen, wie die Zukunft des Archivs ausschaut», sagt Möker. Die Frage ist, ob das Archiv künftig öffentlich werden soll.

Inzwischen melden sich immer mehr Historiker aus der ganzen Welt in Bad Arolsen an. Es wird erwartet, dass die Öffnung der Archive sogar das Interesse an dieser Epoche wieder erhöht.

Dies würde IRKR-Präsident Jakob Kellenberger freuen. «Dieses dunkle Kapitel Geschichte in Deutschland darf nie vergessen gehen», sagte er am Anlass, an dem die Archiv-Öffnung bekannt gegeben wurde.

swissinfo, Julia Slater
(Übertragung aus dem Englischen: Alexander Künzle)

Der Internationale Suchdienst (International Tracing Service) wird von einer internationalen Kommission beaufsichtigt und wird vom IKRK betrieben.

Die Kommissionsmitglieder stammen aus 11 Ländern: Belgien, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Israel, Italien, Luxemburg, Niederlande, Polen, Grossbritannien und USA:

Das IKRK ernennt jeweils einen Schweizer als Direktor.

Der ITS hilft nicht nur im Suchen von Vermissten. Er unterstützt auch bei der Begründung von Kompensationsforderungen.

Nachdem Deutschland und die deutsche Wirtschaft im Jahr 2000 übereinkamen, für Zwangsarbeit Kompensationen auszuzahlen, wickelte der ITS innerhalb von 18 Monaten 190’000 Anfragen ab.

Das Mandat des IKRK beeinhaltet auch die Suche nach Vermissten und Verschleppten bei bewaffneten Konflikten oder Gewalt im Inland.

Heute hilft das IKRK bei der Suche nach Vermissten in vielen Regionen der Welt.

2006 hat die UNO-Generalversammlung eine Konvention angenommen gegen das Verschwindenlassen (Convention on Enforced Disappearances).

Es gibt keine verlässlichen Statistiken über die totale Anzahl der Vermissten, aber man geht von mehreren Hunderttausenden aus.

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