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Immer mehr Länder legalisieren die Sterbehilfe: Welchen Einfluss Literatur und Film dabei spielen

Eine bleiche Frau auf einer Liege
Der Suizid ist die letzte grosse Geste der Selbstbestimmung und damit ein beliebtes Motiv der Kunst. Im Bild: Tilda Swinton in Pedro Almodovars neuem Film "The Room Next Door". Sony Pictures Classics via AP/keystone

Die grossen Erzählungen über Sterbehilfe brennen sich ins kollektive Gedächtnis ein. Ein Forschungsprojekt aus der Schweiz sammelt weltweit Werke dazu. Aber wie gross ist der Einfluss dieser Kunst auf Politik und Gesellschaft?

«Mar adentro». «Intouchables». Die beiden grossen Tetraplegiker-Erzählungen der letzten zwei Jahrzehnte haben eines gemeinsam: Sie basieren auf wahren Begebenheiten. Ansonsten könnten sie gegensätzlicher kaum sein.

Hier der schwermütige, hypnotische Film über einen Seemann, der nach einem Badeunfall für sein Recht auf Suizid kämpft und erst mit Hilfe von Freunden aus dem Leben scheidet. Dort die Buddy-Komödie über einen Pfleger, der einem wohlhabenden Unternehmer nach einem Paragliding-Unfall zu neuem Lebensmut verhilft.

An den Kinokassen spielte «Mar adentro», mit dem Oscar für den besten ausländischen Film ausgezeichnet, rund 43 Millionen Dollar ein – «Intouchables» rund zehn Mal so viel.

Javier Bardem im Rollstuhl in einem Gerichtssaal.
Javier Bardem als Tetraplegiker im spanischen Film «Mar adentro». Keystone

Die Zuschauerinnen und Zuschauer wählen das Leben, die Betroffenen aber wählen den Tod.

In vielen Regionen der Welt ist die Legalisierung der Sterbehilfe in den letzten Jahren vorangeschritten. In Europa erlauben nebst der Schweiz, einst Synonym für den Tod auf Verlangen, heute fast ein Dutzend weitere Länder den assistierten Suizid oder gar die aktive Sterbehilfe.

Darunter ist auch Spanien, wo der Gerichtsfall um den Seemann Ramón Sampedro in den Neunzigerjahren eine Debatte angestossen hatte, die «Mar adentro» später in eindringliche Bilder übersetzte. In Frankreich hat die Regierung dieses Jahr einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der unheilbar kranken Menschen den Zugang zum assistierten Suizid ebnen soll.

Vorausgegangen war ein jahrelanger Kulturkampf, in dem auch Philippe Pozzo di Borgo mitmischte, der die Vorlage für den Unternehmer in «Intouchables» war. Er war bis zu seinem Tod 2023 Patron der Bewegung «Soulager, mais pas tuer», die sich gegen die Sterbehilfe und für die in Frankreich etablierte Praxis der finalen Palliativmedizin einsetzt.

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Das Gesetz und die Gesetze der Kunst

Die grossen Erzählungen über die Sterbehilfe brennen sich ins kollektive Gedächtnis ein. Wie weit aber reicht der Einfluss von Literatur und Film?

Ein Schweizer Forschungsprojekt geht genau dieser Frage nach: Die Website «Assisted Lab’s Living Archive of Assisted DyingExterner Link» sammelt Werke aus der ganzen Welt, wertet diese aus und macht sie zusammen mit Bezugsstellen für den legislativen Prozess und die mediale Debatte zugänglich.

Bis heute wurden für das Archiv rund 60 Werke aufbereitet. «Wir haben aber schon über 350 Werke in unserer Sammlung, die wir nach und nach zugänglich machen werden», sagt Anna Elsner, Professorin für französische Kulturwissenschaften und Medical Humanities an der Universität St. Gallen und Initiantin des Projekts*.

Das Ausmass des Themas habe sie selbst überrascht: «Als ich damals den Antrag an den Europäischen Forschungsrat schrieb, bezog ich mich gerade mal auf 30 Werke.»

Kulturelle Produktionen sehe man immer als Nebenprodukt der politischen Debatten, sagt Elsner. «Dabei ist es faszinierend, wie stark ihr Einfluss ist. Dass im Gesetzgebungsprozess aktiv die Kunst zitiert wird, hat in den letzten zehn Jahren zugenommen.» Auch gebe es eine neue Form der «Ars Moriendi», eine Mediatisierung von Leidensgeschichten.

Der Fall Anne Bert

Das französische Beispiel dazu heisst Anne Bert. Die Autorin erotischer Romane war in der Mitte des Lebens an Amyotropher Lateralsklerose erkrankt, besser bekannt als ALS, und trat offen für eine Gesetzesreform in Frankreich ein. In einem Gesetzesentwurf von 2017, der letztlich nicht zur Legalisierung der Sterbehilfe führte, wird Bert als Mitautorin genannt.

Der Dokumentarfilm «J’ai décidé de mourir»Externer Link zeigt sie in den letzten Monaten ihres Lebens. Wenige Tage nach ihrem begleiteten Suizid im liberalen Nachbarland Belgien erschien ihr Buch «Le tout dernier été» – Plädoyer für einen selbstbestimmten Tod, das sie in den Satz verdichtete: «J’aime trop la vie pour me laisser mourir» (Ich liebe das Leben zu sehr, um mich sterben zu lassen).

Die ganze Dokumentation über Anne Bert können Sie kostenlos hierExterner Link ansehen.

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Nach Berts Tod fanden ihre Geschichte und die künstlerische Aufarbeitung vielfach Erwähnung in den parlamentarischen Debatten Frankreichs.

Kein rein westliches Thema mehr

Der Schwerpunkt der Sammlung liegt auf Europa und Kanada, den Ländern, die in den Jahren nach der Jahrtausendwende (dem Sammlungszeitraum) ihre Gesetzgebung legalisiert haben. Unlängst aber hat Elsner den Kreis der vier festen Mitarbeitenden des Projekts um Freelancer erweitert, um weitere Sprachen und Kulturräume zu berücksichtigen.

Sterbehilfe sei heute kein rein westliches Thema mehr, sagt sie. «Das verändert sich gerade. Ich hatte zum Beispiel Kontakt mit einer Filmemacherin aus Indien, die einen indischen Künstler begleitete, der im letzten Jahr nach Zürich reiste, um zu sterben.»

Zudem hat die Forschungsgruppe kürzlich eine Podcast-EpisodeExterner Link mit Josefina Miró Quesada Gayoso aufgenommen. Die Anwältin hat durch ihren juristischen Erfolg im ersten peruanischen Fall um Sterbehilfe Rechtsgeschichte geschrieben. Sie betont, welch wichtige Rolle Filme in ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema gespielt haben.

Oft sei der Umgang der Kunst mit dem Thema nuancierter und weniger binär als die politische und gesellschaftliche Debatte, meint Elsner. «Es wird das Leiden der Angehörigen gezeigt, auch wenn diese einen Sterbewunsch unterstützten.»

Die Disziplinen folgen ihrer je eigenen Logik: Die Kunst zielt auf die Ambivalenz, die Gesetzgebung auf deren Überwindung. Die Sammlung selbst ist in der Sache indifferent. Ein wertneutrales Archiv, ein Forschungsfundus, der auch nicht versucht, eine These zu stützen.

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So sind auch die Bezüge zwischen der Kunst und der politischen Debatte oft nicht so eindeutig, wie man vermuten würde. Im kanadischen Film «Les Invasions barbares» von 2003, eines der liebsten Sammlungsstücke Elsners (ebenfalls mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet), wird dem Protagonisten am Ende eine tödliche Dosis Heroin gespritzt.

Über ein Jahrzehnt später hat Kanada die aktive Sterbehilfe legalisiert. Im politischen Prozess war der Film wiederholt Thema, aber nicht unbedingt als Plädoyer für die Sterbehilfe, sondern in seiner Darstellung eines überforderten, menschenunwürdigen öffentlichen Gesundheitssystems.

Das «Sterbeland Schweiz» und die Sarco-Kapsel

In der Schweiz wurde das Thema Sterbehilfe in den letzten Jahren primär unter dem Aspekt des Sterbetourismus diskutiert. Eine Abgrenzungsdebatte zur Palliativpflege, wie sie Frankreich erlebt, gab es nicht.

Schlagzeilen machte der Fall um den Genfer Arzt Pierre Beck, der einer gesunden Frau beim gemeinsamen Suizid mit ihrem kranken Mann geholfen hatte. Das Bundesgericht hat Beck diesen März freigesprochen und die liberale Haltung der Schweiz bekräftigt, welche die Suizidhilfe nur unter Strafe stellt, wenn sie eigennützigen Motiven folgt.

Marc Keller, Projektmitarbeiter beim Assisted Lab, hat ausgehend vom Fall ein BuchExterner Link über die Frage nach dem existenziellen Leiden geschrieben, das im November erschienen ist.

Spätestens seit dem Tod einer Person in der Suizidkapsel Sarco, diesen Herbst im Kanton Schaffhausen, sieht sich auch die Schweiz mit einer eigentlichen Sterbehilfedebatte konfrontiert. Mit der Kapsel ist der selbstgewählte Tod nur noch einen Knopfdruck entfernt, es sind keine Ärztinnen und Ärzte involviert.

Der Knopf in der umstrittenen Suizidkapsel Sarco.
Der Knopf in der umstrittenen Sarco-Kapsel. Keystone / Ennio Leanza

«Es geht um die Frage, ob man die Medizin einschliessen soll oder nicht», sagt Elsner. Das erinnert sie an die Kurzgeschichte von 2016. In «SuissID» (erschienen in der Anthologie «Futurs insolites»Externer Link) erspinnt der Schweizer Autor Vincent Gerber einen Service, der auf telefonische Bestellung Suizidhilfe liefert. Kundinnen und Kunden können dabei aus einem Katalog verschiedener Methoden wählen – nach ihren Bedürfnissen und finanziellen Möglichkeiten.

Die Dystopie zielt auf die Kommerzialisierung der Sterbehilfe, fängt aber auch die tatsächliche Komplexität der heutigen Situation in den progressiven Ländern ein.

Die Schweiz, Belgien, Kanada etc. stehen vor der Frage, wo der liberale Umgang mit einem selbstbestimmten Tod fahrlässig wird. Wo Suizidhilfe in Suizidförderung umschlägt. Für Politik und Kunst öffnet sich ein schwieriges Feld.

Editiert von Balz Rigendinger

* Das Projekt Assisted Lab wurde vom Europäischen Forschungsrat für das Förderprogramm Starting Grant ausgewählt, es wird heute vom Schweizer Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) finanziert. Weitere Unterstützung hat das Projekt von der Universität St. Gallen, der Universität Zürich, der McGill University in Montreal, der University of Glasgow, der Newcastle University, sowie der Camargo Foundation in Cassis erhalten.

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