In der Schweiz den Wiederaufbau der Ukraine studieren
Eine Weiterbildung soll ukrainischen Geflüchteten das Rüstzeug geben, ihr Land wiederaufzubauen. Die Berner Fachhochschule schlägt dafür einen neuartigen Weg ein.
Die Zerstörungen in der Ukraine sind ein Jahr nach der flächendeckenden Invasion gigantisch. Und obwohl die Kämpfe unvermindert anhalten, wird bereits über den Wiederaufbau gesprochen. Geht es nach der Schweizer Regierung, soll das Land dabei eine wesentliche Rolle spielen – und zwar jetzt, nicht erst wenn der Krieg vorbei ist.
Auf Initiative des Bundespräsidenten Ignazio Cassis fand im Juli 2022 in Lugano die Ukraine Recovery ConferenceExterner Link statt, es nahmen 58 internationale Delegationen und Hunderte von Vertreter:innen der Wirtschaft und Privatwirtschaft teil.
Das Vorhaben wurde teilweise kritisiert – wie könne man während des Krieges, während den Kampfhandlungen den Wiederaufbau planen? Die Konferenz markierte dennoch den Start für eine institutionalisierte Diskussion darüber: Kurz danach wurden ähnliche Treffen in Berlin und Paris durchgeführt, und dieses Jahr findet in London die zweite AusgabeExterner Link der Ukraine Recovery Conference statt.
Private Unterstützung
Das Treffen in Lugano setzte aber auch Impulse in der Zivilgesellschaft frei. Thomas Rohner war einer der Teilnehmenden. Der Professor der Berner Fachhochschule (BFH) überlegte sich schon kurz nach der Invasion am 24. Februar 2022, wie er mit seinem Institut helfen könnte: «Mir war früh klar, dass wir nicht nur unsere Solidarität ausdrücken wollten, sondern etwas Konkretes zur Unterstützung anbieten müssen.» So machte er sich an die Arbeit.
In Lugano baute er ein Netzwerk auf, um sein Vorhaben umzusetzen: Einen Studiengang zu entwickeln, der sich an ukrainische Geflüchtete in der Schweiz richtet und sie für den Wiederaufbau ihrer Heimat schulen soll. An der Konferenz lernte er Interessierte aus Wirtschaft und öffentlichen Institutionen kennen, auch einige der späteren Studentinnen.
Inzwischen ist daraus der CAS Wiederaufbau UkraineExterner Link entstanden. «Es geht darum, die Geflüchteten zu befähigen, den Wiederaufbau ihrer Heimat voranzutreiben. Die Projekte kommen von ihnen – wir geben ihnen die Methoden mit», sagt Rohner. Der Studiengang ist darum praxisnah und richtet sich an Menschen mit einem relevanten beruflichen Hintergrund.
Die Themeninputs kommen direkt aus der Ukraine, es handelt sich um konkrete Projekte, die im Unterricht entwickelt werden: Beispielsweise Schadensanalysen vornehmen, die Wasser- und Stromversorgung planen, den Wiederaufbau zerstörter Gebäude oder Infrastrukturen mitgestalten.
Dabei werden konkrete Fragen behandelt: Wie lässt sich zerstörter Beton rezyklieren und wiederverwerten? Welche Drohnen eignen sich, um zerstörte Gebäude zu inspizieren? Wie kann man kontaminierte Böden inventarisieren? Der Kurs begann Ende Februar und dauert vier Monate. Mehrere Hochschulen und Institute aus der Schweiz und der Ukraine nehmen daran teil, sie identifizieren mögliche Projekte und erarbeiten Lösungen.
Ein wesentlicher Punkt im Vorfeld war die Finanzierung. Die Ausbildung kostet 6500 Franken, dazu kommen Reise- und sonstige Kosten. Da die Geflüchteten kaum über solche Mittel verfügen, organisierte Rohner Unternehmen, Stiftungen und Private, die jeweils eine Patenschaft übernehmen und die Gebühren bezahlen. Zudem wurde ein Angebot für die Kinderbetreuung organisiert, da viele der Teilnehmerinnen Kinder haben.
Der Kurs als Prototyp?
«Es ist sehr wichtig für mich, Teil des Prozesses zu sein und etwas für mein Land zu tun», sagt die Teilnehmerin Yuliia Halushko. Sie kam mit ihren drei Kindern nach der Invasion in die Schweiz und arbeitete zuvor unter anderem im Bereich der Wasserkraft. «Sehr wertvoll finde ich, dass wir auch Fragen der Nachhaltigkeit und der Korruption behandeln.». Sie gibt sich optimistisch, das gesammelte Wissen nach ihrer Rückkehr in der Ukraine umsetzen zu können.
27 der 30 Teilnehmenden sind Frauen, viele haben einen Hintergrund in der Bau- oder Energiebranche, andere sind Quereinsteigerinnen. Das Interesse ist gross – die BFH möchte im Herbst den Kurs nochmals anbieten.
Die Weiterbildung könne allenfalls als Prototyp für andere kriegsversehrte Länder dienen, glaubt Rohner: «Auch andere Flüchtlingsgruppen könnten davon profitieren – man denke etwa an Klimaflüchtlinge, die wir vielleicht in Zukunft vermehrt sehen werden.»
Stand heute dürfte das schwierig werden. Dank des Schutzstatus S können Geflüchtete aus der Ukraine in der Schweiz rasch arbeiten und studieren – das können Asylsuchende in der Regel erst nach dem positiven Abschluss ihres Verfahrens, was sehr lange dauern kann.
Im Falle der Ukraine werden die Herausforderungen gewaltig bleiben. Klar scheint, dass die USA und die europäischen Staaten den Grossteil der Finanzierung stemmen werden – wie das geschehen soll, ist jedoch weiterhin unsicher. Die Teilnehmer:innen dieses Kurses werden vielleicht bald ein paar Ideen dazu haben.
Trotz der unterstützenden Rhetorik – ein Vergleich zeigt: Die offizielle Schweiz leistet weniger Hilfe an die Ukraine als andere Länder:
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