Italien organisiert sich nach dem Erdbeben
Die Zahl der Opfer des schweren Erdbebens in Mittelitalien steigt, die Suche nach Verschütteten dauert an, insbesondere in L'Aquila, der Hauptstadt der Abruzzen. Rom hat bisher jegliche internationale Hilfe ausgeschlagen.
Der 6. April 2009 wird in die Geschichte der schlimmsten Erdbeben Italiens eingehen. Der Stiefel befindet sich zwischen der afrikanischen und der eurasischen Platte und ist deshalb ein Gebiet mit einer hohen Erdbebenwahrscheinlichkeit.
Am Montag bebte die Erde mit einer Stärke von 5,8 auf der Richterskala. Das Epizentrum wurde in der Nähe der mittelalterlichen Stadt L’Aquila in den Abruzzen ausgemacht, rund hundert Kilometer nordöstlich von Rom. Diese Region wurde bereits am 13. Januar 1915 durch ein Erdbeben verwüstet. Die damalige Bilanz: 30’000 Tote.
Bei der Katastrophe vom Montag ist die Zahl der Todesopfer auf 179 gestiegen. Das teilte das Koordinationszentrum der Rettungsmannschaften am Dienstag Morgen mit. 34 Menschen werden noch vermisst. Rund 1500 Verletzte und mehr als 50’000 Obdachlose werden in L’Aquila und Umgebung registriert.
Die gewaltigen Erschütterungen wurden bis Rom wahrgenommen, wo Lampen schwankten, Möbel vibrierten und bei vielen Autos der Alarm ausgelöst wurde.
Schweiz hat Hilfe angeboten
Angesichts des Ernsts der Lage hat der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi den Nationalen Notstand ausgerufen.
Rom hat hingegen die Hilfsangebote des Auslands ausgeschlagen. Wie Russland, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Israel oder die Europäische Union, hat auch die Schweiz ihre Dienste angeboten, verlautet aus dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA).
Als das Ausmass der Katastrophe ersichtlich wurde, richtete das Schweizerische Korps für humanitäre Hilfe (SKH) in Bern einen Krisenstab ein. Dieser unterhält regelmässigen Kontakt mit Italien.
Viele Regierungen haben Italien ihr Beileid für die Opfer ausgesprochen, so auch US-Präsident Barack Obama, der derzeit in der Türkei weilt, der letzten Station seiner ersten Europa-Tour.
Verwirrung vor Ort
Zur Zeit suchen Helferteams mit Hunden und schwerem Gerät in den Ruinen der Region L’Aquila nach Opfern. Das Erdbeben beschädigte mehr als zehntausend Häuser.
Italienische Fernsehsender zeigen Bilder von eingestürzten Dächern, zerstörten Strassen und Böden, Steinfällen in den Bergen. Ein Radioreporter berichtete, dass die Beseitigung der Schäden wahrscheinlich sehr viel Zeit in Anspruch nehmen wird.
Die Vorsitzende des Kreises Schweiz Abruzzen, Christina Mazziotti, die in Pescara an der Adriaküste lebt, berichtet von der Verwirrung, die derzeit im betroffenen Gebiet herrsche. Sie wurde unmittelbar nach dem Beben von der Schweizer Botschaft kontaktiert und versucht seitdem, die Mitglieder des Kreises, die in Dörfern im Umkreis von L’Aquila wohnen, zu erreichen.
«Ich konnte mit einer Person telefonieren, die versucht, trotz der schrecklichen Ereignisse nicht die Nerven zu verlieren, auch wenn ihre beiden Nachbarn offenbar gestorben sind. Eines ist sicher, die Zahl der Opfer wird noch weiter ansteigen», befürchtet Mazziotti. Aber die Solidarität bei dieser Katastrophe sei «beeindruckend».
Anschwellende Polemik
Vor dem verheerenden Erdbeben am Montag war das Abruzzen-Gebirge mehrmals von Erdbeben verschiedener Intensität erschüttert worden. Wissenschafter in Italien behaupten, diese Katastrophe hätte verhindert werden können.
Der Seismologe Giampaolo Giuliani hatte Ende März Alarm geschlagen, nachdem er verstärkte seismische Aktivitäten in der Region registriert hatte. Seine Prognosen wurden jedoch als Panikmache abgetan.
Keine präzisen Vorhersagen
«Das Problem ist, dass die meisten Gebäude älter sind als die Richtlinien für seismische Sicherheit. So erleiden öffentliche Gebäude, Krankenhäuser und Schulen weiterhin grossen Schaden. Mehr als ein Drittel der 60’000 in Italien inspizierten Schulen bedarf dringend einer Revision», sagte ETH-Professor Domenico Giardini, Direktor des Schweizerischen Erdbebendienstes, gegenüber swissinfo.
Es gebe verschiedene Arten, Erdbeben vorauszuberechnen. «Diese Methoden sind langfristig angelegt, auf 10 oder 20 Jahre. Es ist wichtig, sich bewusst zu sein, dass ein Erdbeben in einer bestimmten Region auftreten kann. Man muss in diesem Fall baulich entsprechend vorsorgen», sagte Giardini.
Für kurzfristige Vorhersagen gäbe es zwar verschiedene Modelle und Theorien. «Aber es gibt keine präzisen und zuverlässigen Aussagen, wann und wo sich ein Erdbeben ereignen wird.» Beobachtungen der Radon-Konzentration oder des Verhaltens von Tieren seien nicht immer richtig und unfehlbar.
Schweizerische Zelte und Gesundheitszentren
Das Schweizerische Rote Kreuz wollte am Montagabend 200 Zelte für obdachlose Familien ins Erdbebengebiet schicken. Die Zelte sind mit Betten, Decken und Heizungen ausgestattet und bieten Raum für 1000 Personen.
Dazu kommen zwei grosse Merhzweckzelte für Gesundheitszentren und Gemeinschaftsküchen. Das SRK will mit dieser Aktion das Italienische Rote Kreuz bei der Nothilfe unterstützen.
swissinfo
Der italienische Zivilschutz hat eine besondere Telefonnummer eingerichtet für die Information von Personen, die Angehörige im Erdbebengebiet haben. Aus der Schweiz wählt man: 0039 06 68 201.
Informationen sind auch via E-Mail-erhältlich: salaoperativa@protezionecivile.it.
Gemäss der italienischen Botschaft in Bern leben rund 24’000 aus den Abruzzen stammende Menschen in der Schweiz
104 Schweizerinnen und Schweizer leben in der Zone um L’Aquila.
Die Schweiz ist weniger erdbebengefährdet als Italien oder die Türkei.
Trotzdem wäre ein starkes Erdbeben eine Naturkatastrophe mit mehr Schadenspotential als Lawinen oder Hochwasser – dies aufgrund der Bevölkerungsdichte und der Konzentration der Güter in der Schweiz.
Am 1. April hat der Bundesrat ein Programm beschlossen, dass die Erdbebensicherheit der Schweiz vergrössern und die Folgen eines starken Erdbebens mildern soll.
Dazu sollen privaten Eigentümern und Gemeinden Mittel und Möglichkeit zur Erdbebensicherheit empfohlen werden.
Die Sicherheitsnormen für öffentliche Bauten werden nur selten auch für den privaten Bereichen eingefordert. Ausnahmen sind die Kantone Basel-Stadt und Wallis, deren Gebiete in der Schweiz am meisten erdbebengefährdet sind.
Das Programm der Landesregierung soll auch die Erdbebenfestigkeit der Infrastruktur prüfen. So auch die Dämme und Kernkraftwerke, von denen die meisten nicht nach den neusten Erdbebenvorschriften gebaut worden sind.
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