Jugendgewalt als Wahlkampf-Thema
Drei Monate vor den eidgenössischen Wahlen machen alle Parteien Vorschläge, wie gegen Jugendgewalt und das Gefühl von Unsicherheit vorzugehen sei.
Auf die Gefahr hin, ihre eigene Basis zu spalten, stösst auch die Sozialdemokratische Partei (SP) auf ein Terrain vor, das bisher vor allem von der rechts-konservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) beackert wurde.
«Politiker aller Parteien verweisen zuerst darauf, dass es keine verlässlichen Zahlen gebe, und fahren dennoch fort, falsche Wahrheiten zu verbreiten über wachsende Gewalt der Jugendlichen, vor allem der Ausländer», erklärt Pierre Maudet, Präsident der Eidgenössischen Kommission für Jugendfragen.
Erst ab 2009 wird ein nationales Kriminalregister vorliegen, aus dem auch der Anteil der kriminellen Ausländer ersichtlich sein wird. Erst dann wird man effektiv sagen können, ob die Zahl der Gewalttaten wirklich steigt.
Wie andere Experten ist Pierre Maudet der Ansicht, dem sei bisher nicht so. Der Genfer macht sich viel mehr Sorgen über die Art der Gewalttaten; die «qualitative Zunahme, mit dem Bandenphänomen, den körperlichen Verletzungen und vor allem der Rückfälligkeit, der Mehrfach-Rückfälligkeit», wie er es umreisst.
Das Monopol der Rechtskonservativen
Unter dem Druck der Aktualität entwickeln die Politiker alle ihre eigenen magischen Rezepte, mit unterschiedlichen Dosierungen von Integration und Prävention einerseits, Repression und Ausweisung andererseits.
Lange Zeit hatte die SVP beim Thema Sicherheit fast ein Monopol inne. Sie kämpft dafür, dass Einbürgerungen Sache des Volkes sind. Und sie fordert die Ausweisung straffällig gewordener Ausländer – und von deren Familien, wenn der Täter noch minderjährig ist.
Die Ausschaffungs-Forderung steht im Zentrum einer Volksinitiative, für die vergangene Woche eine kostspielige Plakatkampagne gestartet wurde: Die Affichen zeigen drei weisse Schafe, die ein schwarzes Schaf aus der Schweiz vertreiben. Die SVP will alle Ausländer ausweisen, die straffällig werden oder missbräuchlich Sozialleistungen beziehen.
Justizminister Christoph Blocher seinerseits will gegen Jugendgewalt mit Repression und Prävention vorgehen. Der SVP-Bundesrat hat dazu eine Reihe von Massnahmen in eine Anhörung geschickt. Die Kantone werden aufgerufen, mit der systematischen Ausweisung von ausländischen Delinquenten ein «klares Signal» zu senden. Blochers Schwierigkeit ist, dass die Kantone in diesem Bereich souverän sind.
Andererseits haben Rechtsexperten, darunter der Berner Professor Jörg Paul Müller, bereits davor gewarnt, dass solche Massnahmen nicht umsetzbar seien, da sie gegen internationale Menschenrechts- und Kinderrechts-Verträge verstiessen, die auch die Schweiz ratifiziert hat.
Die SP steigt ins Spiel ein
Mittlerweilen befasst sich auch die Sozialdemokratische Partei mit dem Thema. Im vergangenen November machte die Partei ihre neue Integrations-Politik publik. Und Ende Juni verabschiedeten die SP-Delegierten Resolutionen gegen die Jugendgewalt, bei der es sich ihrer Ansicht nach «nicht um ein ethnisches, sondern um ein soziales Problem» handelt.
Um Lösungen zu finden, müsse man Prävention, Schutz und Intervention kombinieren und dabei die Familie und die Schule mit einbeziehen.
Die SP-Bundesrätin Micheline Calmy-Rey, die diesjährige Bundespräsidentin, hat ihren Regierungskollegen Blocher kritisiert. Sie wertet die Vorschläge der SVP als «Gegenteil von dem, was wir wollen und als das Letzte, dass wir brauchen».
Gefängnis für unter 15-Jährige
In Zürich, wo die Linke bei den Wahlen im Frühjahr Terrain verloren hat, ist die SP mittlerweile noch weitergegangen. Ihre Ständerats-Kandidatin Chantal Galladé hat vorgeschlagen, dass auch Jugendliche unter 15 Jahren schon ins Gefängnis gesteckt werden sollten. Galladés Vorschlag löste einen Sturm der Kritik aus, auch in der Partei selber.
Die Gegner einer verschärften Repression verweisen unter anderem darauf, dass ein solches Vorgehen eine erneute Revision des Jugendstrafgesetzes voraussetzen würde, das erst seit Anfang dieses Jahres in Kraft ist.
Pierre Maudet bedauert, dass der Justizminister nicht zuerst auf eine Bilanz der neuen Gesetzgebung wartet. Und dass kein Politiker die richtigen Fragen stellt: «Wieso ist die Justiz so langsam? Wieso hilft der Bund den Kantonen nicht beim Aufbau von Haft-Zentren? Wieso haben die Jugendrichter nur so wenig Mittel zur Verfügung?»
Für den Genfer ist die Politik von der Realität abgekoppelt. «Das Phänomen ist besorgniserregend, aber nicht in derart summarischer Art und Weise, wie es die Politiker beschreiben. Die Wurzeln des Problems liegen nicht bei den Symptomen, die mit diesen Rezepten bekämpft werden sollen», erklärt Maudet. All dies rieche nach Wahlpropaganda, schliesst er.
swissinfo, Isabelle Eichenberger
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)
Am 10. Juli lanciert die SVP die Unterschriftensammlung für ihre Volksinitiative «kriminelle Ausländer ausschaffen».
Am 30. Juni verabschieden die SP-Delegierten eine Resolutionen gegen die Jugendgewalt.
Am 29. Juni schickt Justizminister Christoph Blocher (SVP) eigene Massnahmen-Vorschläge in eine Anhörung. Die Kantone werden aufgerufen, Ausweisungen systematisch zu vollziehen.
Viola Amherd von der Christlichdemokratischen Partei (CVP) hat im Nationalrat den Antrag für eine Debatte zu dem Thema eingereicht.
CVP und SP fordern ein Bundesgesetz zur Jugend- und Kinderpolitik.
Die FDP fordert ein Gesetz zur Ausländer-Integration.
Eine eidgenössische Kriminal-Statistik gibt es seit 1982. Bis heute haben die 26 Kantone jedoch unterschiedliche Erfasssungs-Methoden. Es ist daher schwierig, die Zahlen zu vergleichen.
Bis 2009 müssen die Kantone jetzt ihre Informatiksysteme vereinheitlichen genauso wie die Art und Weise, wie und welche Delikte erfasst werden. Damit sollen Delinquenten im ganzen Land einfacher verfolgt werden können; zudem wird ein nationales Register entstehen.
2005 wurden in der Schweiz laut Bundesamt für Statistik über 14’000 Jugendstrafurteile gegen Minderjährige gesprochen.
1999, als die Statistik eingeführt wurde, zählte man 12’000.
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