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Kantone streiten wegen Asyl-Unterkünften

Im aargauischen Bettwil stiessen Pläne für eine Unterkunft für 140 Asylsuchende auf grossen Widerstand. Keystone

Die Suche nach temporären Unterkünften für Asylsuchende sorgt bei lokalen Behörden für Kopfweh. Kürzlich fand in Pully, einer wohlhabenden Kleinstadt bei Lausanne, kurz vor der Eröffnung einer unterirdischen Anlage eine hitzige Debatte statt.

Eigentlich sind sich die eidgenössischen und die kantonalen Behörden einig: Bis Ende Jahr müssen 2000 neue Plätze für Asylsuchende geschaffen werden.

Doch die Pläne stossen überall auf Hindernisse, sei es wegen Baugesetzen, der Nichtverfügbarkeit militärischer Einrichtungen oder dem Widerstand der lokalen Bevölkerung.

In der gesamten Schweiz wurden Gemeinden dazu verpflichtet, temporäre Unterkünfte für die stetig steigende Anzahl Menschen im Asylverfahren anzubieten.

Das Treffen im waadtländischen Pully war zwar weniger konfrontativ als andere, die Fragen zu den 50 Plätzen im unterirdischen Zivilschutzbunker waren im 400 Personen starken Publikum aber ähnlich. Die grösstenteils älteren Menschen aus dem ruhigen Städtchen am Genfersee zeigten sich besorgt über Themen wie Sicherheit und möglichen Drogenhandel.

«Werden diese Leue tagsüber in unsere Wohnungen kommen, wenn das Zentrum geschlossen ist?», fragte eine Frau. «Wer sind diese Leute? Die meisten kommen aus wirtschaftlichen Gründen, einige werden Drogendealer oder heiraten, um an Schweizer Papiere zu kommen», sagte eine andere.

Doch es gab auch Stimmen aus dem anderen Lager: «Es ist typisch Waadtländisch, immer alles bereits im Vorfeld zu kritisieren. Wir müssen den Behörden vertrauen.»

Philippe Leuba, heutiger Wirtschafts- und ehemailger Volkswirtschaftsdirektor des Kantons Waadt, bat das Publikum, nicht in Stereotypen zu verfallen: «Es gibt Delinquenten – ich schicke täglich welche per Flugzeug zurück in ihr Land –, es sind einige Leute hier aus wirtschaftlichen Gründen, die ein besseres Leben suchen. Aber es finden sich darunter auch Menschen, die gelitten haben, andere, die gefoltert wurden und andere, die echte politische Flüchtlinge sind.»

Pierre Imhof, Direktor des waadtländischen Migrationsdienstes (EVAM), versuchte ebenfalls, das Publikum zu beruhigen: «Ängste betreffend Sicherheit sind normalerweise unbegründet, weil Asylsuchende überwacht werden – sie besuchen meist ein Tageszentrum. Doch wir können nicht ausschliessen, dass trotzdem etwas passiert.» Die lokale Arbeitsbeschaffung für Migranten sei sehr erfolgreich, betonte er.

Starker Anstieg

Das Damataire-Zentrum in Pully wird die sechste temporäre Unterkunft sein, die der EVAM eröffnet, um dem starken Anstieg von Asylgesuchen im letzten Jahr zu begegnen – gegenüber 2010 stieg die Anzahl um 45 Prozent auf 22’551 Gesuche an, die höchste Zahl seit 2002.

Da sich die Kantone verpflichtet haben, die Last zu teilen, erhält der Kanton Waadt 8,4 Prozent aller Asylsuchenden. Doch die Beamten tun sich schwer mit der Suche nach geeigneten Räumlichkeiten für kurzfristige Unterbringung, während sich Entscheide für längerfristige Projekte hinziehen.

Die Behörden von Pully haben sich bereiterklärt, das Zentrum auf temporärer Basis für ein Jahr zu öffnen. Bei grösserer Nachfrage kann das Zentrum für weitere Perioden von jeweils drei Monaten offenbleiben.

Leuba gab bei der Diskussion zu, dass er keine einfache Aufgabe habe: «Ich bin nicht hier, um gute Nachrichten zu verbreiten, doch es ist meine Pflicht, die Konsequenzen unserer Asylpolitik zu akzeptieren. Sie ist nicht einfach und gefällt nicht allen», sagte der Freisinnige.

«Alle unsere permanenten Asylunterkünfte sind zu 100 Prozent belegt. Wir hoffen, dass die Reformen von Justizministerin Simonetta Sommaruga den gegenwärtigen Asylgesuchprozess verkürzen werden und neue Asylstrukturen des Bundes bedeuten werden, dass wir nicht zu viele Zivilschutzanlagen öffnen müssen. Denn das ist jedes Mal schwierig und die Lebensbedingungen in diesen Anlagen sind nicht einfach.»

Verpflichtung der Kantone

Nicht alle Kantone sind im gleichen Mass betroffen, und die Reaktionen sind von Region zu Region verschieden ausgefallen. In Genf etwa musste in Carouge in letzter Minute für 40 Männer eine zweite Unterkunft in einer Zivilschutzanlage erstellt werden, um dem Ansturm gerecht zu werden. Ihre Ankunft verlief relativ problemlos.

Im Kanton Freiburg hat die Regierung am 19. Januar erklärt, sie plane, Mitte Februar in Wünnewil eine Zivilschutzanlage für 50 Asylsuchende zu eröffnen. Die Bevölkerung hat Angst, das Leben in diesem kleinen Dorf könnte verändert werden. Einige Mütter von jugendlichen Töchtern befürchteten, dass junge Asylsuchende aus der Anlage nahe der Schule zur Gefahr werden könnten.

In einigen Deutschschweizer Gemeinden war der Widerstand gegen die Beherbergung von kleineren Gruppen von Asylsuchenden allerdings grösser. So erklärte Werner Steiner, Gemeindepräsident im zürcherischen Birmensdorf und Mitglied der Schweizerischen Volkspartei (SVP), er wolle keine Asylbewerber aus Afrika mehr in den Asylcontainern neben der Armeekaserne.

Und in Bettwil, einer 557-Seelen-Gemeinde im Kanton Aargau, stiessen Pläne des Bundesamts für Migration (BFM), 140 Asylsuchende in renovierten Baracken unterzubringen, auf harten Widerstand. Sogar ein stark verkleinertes Projekt von 20 bis 40 Personen wurde kürzlich abgeschmettert.

2011 wurden 22’551 Asylgesuche eingereicht – 45% mehr als 2010 und am meisten seit 2002.

Laut dem Bundesamt für Migration hat der starke Anstieg mit den Umwälzungen in den Ländern in Nordafrika zu tun, sowie mit der Öffnung von Migrations-Routen nach Europa im März.
 
Die meisten Menschen kommen aus Eritrea (3356 Anfragen), Tunesien (2574) und Nigeria (1895).
 
Die Anzahl der Menschen, die Asyl erhalten haben, stieg um 7,6% auf 3711.

Einwanderung und Asyl gehören zu dem am kontroversesten diskutierten politischen Themen in der Schweiz.

Während die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) für striktere Asylregeln kämpft, sind Mitte- und Links-Parteien der Meinung, die Schweiz dürfe humanitäre Prinzipien nicht verletzen.

Der Bund legt die Asylprozesse fest, doch ist es an den 26 ziemlich autonomen Kantonen, die Politik umzusetzen.

Plätze für Asylsuchende sind rar, seit der damalige Justizminister Christoph Blocher 2006 entschieden hatte, gewisse Zentren zu schliessen und mit lediglich 10’000 Anfragen pro Jahr rechnete.

In einem Interview mit der deutschen Die Zeit vom 26. Januar verlangte Justizministerin Simonetta Sommaruga einen objektiveren Zugang zum Thema.

«Die Menschen, die sich im Asylprozess befinden, machen zwei Prozent der Ausländer in der Schweiz aus. Und trotzdem herrscht das Gefühl, 2500 Tunesier könnten das Land destabilisieren.» Sie wolle die Situation nicht herunterspielen, aber «ich muss auch immer wieder die Relationen herstellen», so Sommaruga. Betreffend Migration herrsche «eine eigentliche Unversöhnlichkeit, die selten ist in der Schweiz.»

(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)

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