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Keine Ferien ohne Folgen

Heisst Wachstum mehr Betten im Angebot oder mehr volle Betten? Ex-press

Tourismus als Wissenschaft – vor 30 Jahren tönte das noch ziemlich abwegig. Doch Hansruedi Müller und sein Berner Forschungsinstitut für Freizeit haben die oft negativen Folgen von Ferien und Reisen untersucht und dem Bewusstsein der Öffentlichkeit nähergebracht.

Als Hansruedi Müller Anfang 1980er-Jahre als «Werkstudent», wie man damals die berufsbegleitend Studierenden nannte, Assistent an der Universität Bern wurde, begann der Tourismus gerade, seine Unschuld zu verlieren.

Lange vor dem Klimaproblem zeigten die damals unerwartet zunehmende Freizeit, steigende Kaufkraft und ungeahnte Transportmöglichkeiten dank verbesserten Verkehrswegen erstmals die negative Seite des (Massen-)Tourismus: Beton statt Landschaft, Staus statt Aussicht, Stress statt Erholung.

Das sich daraus ergebende Wachstumsdilemma hat Müller seither wie ein roter Faden durch seine akademische Karriere begleitet. Kein Wunder, dass dieser Zwiespalt auch Schlüsselthema seiner Abschiedsveranstaltung Ende Januar war.

swissinfo.ch: Ist es vermessen, einen Tourismusprofessor zu fragen, ob die Schweizer bei einer Annahme der Ferieninitiative (siehe Kästchen) noch mehr in die Ferien gehen werden?

Hansruedi Müller: Teilweise sicher. Aber wer genau würde denn zusätzliche Ferien erhalten? Die Pensionierten nicht – die haben immer Ferien! Die älteren Erwerbstätigen auch nicht – die haben die sechs Wochen bereits. Noch mehr Ferien haben die Studenten. Und viele Privilegierte lassen sich ihre Überstunden als weitere Ferienwoche anrechnen.

Es stellt sich aber die Frage: Gingen sie einmal länger oder öfters häufiger in die Ferien? Gemäss Statistiken nimmt eher das Zweite zu, was zu mehr Stress führt. Deshalb ist es umstritten, ob sechs Wochen Ferien tatsächlich den Stress abbauen.

swissinfo.ch: A propos Volksinitiativen, sprich Wirtschaftspolitik: Konnten Sie als Professor dazu beitragen, dass Ihre Forschungserkenntnisse bis in die Niederungen der Tagespolitik einflossen?

H.M.: Das politische Einwirken, das wir immer versuchten, ist für mich nie eine Niederung gewesen, sondern eine Herausforderung. Weniger Tagespolitik als langfristige Planung war gefragt.

Wir haben immer versucht, mit den Akteuren zusammenzuarbeiten. Mit dem Bundesamt für Umwelt Bafu zum Beispiel, mit Verbänden oder dem Staatssekretariat für Wirtschaft Seco.

Gerade eben haben wir mit dem Seco die neue Wachstumsstrategie für den Tourismus erarbeitet.

Wir mussten uns auch immer überlegen, was von all dem, das wir theoretisch propagiert hatten, überhaupt mehrheitsfähig und umsetzbar war. Nur so merken Professoren und Studenten, ob ihre Erkenntnisse den Realitäten entsprechen und auch brauchbar sind.

swissinfo.ch: Probleme, touristische «Baustellen», gibt es in der Schweiz zuhauf: Hotellerie, Ferienwohnungen, Beton, Landschaft, öffentlicher Verkehr, Privatverkehr, Bergbahnen etc. Wo brennt’s am meisten?

H.M.: Das Kerndilemma zwischen Tourismus und Wachstum ist, dass das Wachstum das touristische Kapital aufbraucht, sei dies in Form von Landschaft, Kultur oder Authentizität. Daran sind nicht nur die Touristiker schuld, sondern gleichermassen die Touristen selbst, also jeder Einzelne.

Spezifisch für die Schweiz und den Mittelmeerraum, aber nicht für Österreich, gehört der Zweitwohnungs-Bau zu den grössten Schändern am touristischen Kapital. Er geht weder landschaftlich noch wirtschaftlich auf, denn seine Betten bleiben immer kalt, weil es sich mehr um Geld- als um Ferienanlagen handelt.

Ein weiteres Dilemma ist der verhinderte Strukturwandel in der Hotellerie und bei den Bergbahnen. Nötige Schrumpfungen werden be- oder verhindert. Ein Drittel aller Hotels sind eigentlich nicht überlebensfähig, man weiss es seit Jahrzehnten. Aber passieren tut kaum etwas.

Es brennt ausserdem beim schlechten Image des Bergsommers, der nur noch für Zweit- oder Drittferien gut genug ist, und beim starken Franken.

swissinfo.ch: Ist diese selbstzerstörerische Wirkung des Wachstums im Tourismussektor offensichtlicher als in anderen Branchen?

H.M.: Ich glaube nicht. Dem Tourismus eigen ist aber der Umstand, dass ein Wachstum die Ressourcen derart auffrisst. Ein Wachstumsdilemma kennen auch andere Sektoren, wie die Energie mit ihrem Atomausstieg oder das Gesundheitswesen mit der Altersfalle.

swissinfo.ch: Aber das Wachstum der riesigen Gästeströme aus China und Indien steht ja erst am Anfang. Werden wir bald in asiatischen Touristenmassen ersticken?

H.M.: Gewisse Schweizer Unternehmen sind schon lange auf diesen neuen Wachstumsmärkten aktiv – und erfolgreich. So wiesen die Jungfraubahnen auch im schwierigen Jahr 2011 Wachstum aus. Rein ökonomisch ist dies positiv.

Negativ wird es erst, wenn man dazurechnet, dass die Anfahrtsflüge dieser Leute noch viel länger sind als jene der Europäer, noch mehr CO2 abfällt und eines Tages sich eben deshalb auch in höheren Lagen Schneemangel einstellt.

swissinfo.ch: Womit wir wieder beim Dilemma wären. Und Sie? Wohin werden Sie nach der Pensionierung in die Ferien fliegen wollen? Patagonien oder Australien?

H.M.: Sicher nicht! Ich werde ja keine Ferien mehr, sondern nur noch frei haben. Das erste Mal in meinem Leben habe ich für 2012 keine Ferien geplant!

Aber als Präsident des Schweizer Leichtathletikverbands stehen mir noch einige Reisen bevor.

Eigentlich habe ich schon seit langem keine richtige Ferien mehr gemacht, sondern den Urlaub immer mit Beruflichem verknüpft, indem ich zum Beispiel Kongresse um einige Tage verlängerte.

Jetzt vor meiner Pensionierung darf ich auch zugeben, dass ich manchmal die Kongresse mehr nach ihrer Destination als nach ihrem Thema ausgewählt habe, um zu kombinieren.

Am 11. März befindet das Schweizer Stimmvolk unter anderem über die Volksinitiative «6 Wochen Ferien für alle» der Gewerkschaften.

Mehr Arbeitsbelastung verlange nach mehr Erholung, so ihr Argument.

Mehr Ferien seien wirtschaftlich nicht tragbar, sagen die Gegner.

Bundesrat und Parlament lehnen die Initiative genauso ab wie die Arbeitgeberverbände und die bürgerlichen Parteien. Gewerkschaften, Sozialdemokraten und Grüne empfehlen sie zur Annahme.

Hansruedi Müller, 1947 geboren, begann seine universitäre Laufbahn an der Uni Bern 1982 als Assistent des bekannten Berner Tourismusforschers Jost Krippendorf, dessen Werk er 1989 als Professor fortsetzte.

Er lehrte Freizeit und Tourismus an der Universität Bern, leitete das Forschungsinstitut für Freizeit und Tourismus (FIS) und wurde im Januar 2012 emeritiert, also pensioniert.

Ursprünglich absolvierte er eine Lehre als Betriebsdisponent bei den SBB, arbeitete 7 Jahre auf der SBB-Direktion und studierte parallel auf dem zweiten Bildungsweg.

Müller ist auch Präsident von Swiss Athletics, dem Schweizerischen Leichtathletik-Verband.

In dieser Position hat er mit der Europameisterschaft von 2014 in Zürich noch einen Gross-Event vor sich.

Müllers Nachfolger in Bern ist Aymo Brunetti, bislang Chefökonom des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco).

Brunetti war als Direktor für Wirtschaftspolitik Mitglied der Geschäftsleitung des Seco, das zum Eidg. Volkswirtschafts-Departement (EVD) gehört.

Unter Brunetti wird die Tourismusforschung in ein neues Institut für Regionalpolitik integriert (Center for Regional Economic Development).

So kommt die Tourismusforschung und -lehre künftig in einen interdisziplinären Rahmen.

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