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Kinder deutscher Widerstandskämpfer zu Besuch

Fotografie, die für die Reisedokumente von Alfred von Hofacker benutzt wurde. Alfred von Hofacker

Ein wenig bekanntes Kapitel Schweizer Geschichte um das gescheiterte Hitler-Attentat von 1944 wurde jüngst erneut aufgerollt. Aber was mit den Frauen und Kindern der hingerichteten Attentäter passierte, war bisher auch für viele Historiker unbekannt.

Dutzende Söhne und Töchter der Hingerichteten wurden nach dem Krieg zur Erholung in die Schweiz gebracht.

Ende Oktober besuchten 40 dieser Halbwaisen die Familien im Kanton Bern, die sie damals aufgenommen hatten, sowie das Kinderheim in den Berner Alpen, wo viele gepflegt worden waren.

«Als wir am ersten Abend zusammenkamen, um über unsere Erinnerungen zu reden, wurde uns bewusst, wie stark unsere Emotionen sind, wie dankbar wir sind, wenn wir an diese Zeit zwischen 1947 und 1949 denken», erklärt Hans-Manfred Rahtgens gegenüber swissinfo.ch. Rahtgens ist der Vorstandsvorsitzende des Vereins «Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944», der die Reise in die Schweiz organisiert hatte.

Er selber war erst wenige Monate alt, als sein Vater Karl-Ernst Rahtgens hingerichtet wurde. An die Zeit in der Schweiz erinnert sich Rathgens, der damals erst drei Jahre alt war, nicht.

Aber die Erinnerungen anderer, die älter waren als er, machen klar, wie traumatisiert viele dieser Kinder waren.

So erinnert sich Mechthild von Kleist: «Ich hörte Schüsse und hatte schreckliche Angst. Ich kroch unter das Bett und rief ‹Mama, Mama, hilf mir, die Russen kommen›.» Sie habe sich so sehr gefürchtet, dass sie zwei Tage nicht unter dem Bett hervorkommen wollte. Schweizer Soldaten hatten in der Nähe Schiessübungen absolviert.

Konzentrationslager

Alfred von Hofacker hatte 1944 erlebt, wie seine Mutter und seine älteren Geschwister von den Nazis in Sippenhaft genommen wurden und in ein Konzentrationslager kamen.

Er wurde in ein Heim gebracht und wusste nicht, wie es seiner Familie erging. Als er nach dem Krieg erfuhr, dass er in die Schweiz fahren werde, fürchtete er, erneut in ein Heim gesteckt zu werden.

«Ich war überrascht, als ich zu einer Familie kam, die einen Sohn in meinem Alter hatte. Wir wurden rasch Freunde», sagt von Hofacker.

Dieser Freund war Thüring von Erlach. Er erklärt heute: «Ich wusste, dass sein Vater hingerichtet worden war. Das hatte mich beeindruckt. In der Familie sprachen wir damals bewusst nicht darüber, denn wir wussten, dass er bei uns war, um wieder zu Kräften zu kommen.»

Von Erlachs Pate war Albrecht von Erlach, der Berner Kinderarzt und Oberst der Schweizer Armee, der als «Fröntler» galt. Er hatte seine Beziehungen zu den Alliierten im besetzten Deutschland und jene in der Schweiz genutzt, um die Aufenthalte für die Kinder der Attentäter um von Stauffenberg zu organisieren.

«Verräterfrauen»

Neben seiner Liebe für Kinder (das Ehepaar von Erlach war kinderlos geblieben), ist bis heute nicht klar, wieso gerade ein Mann, der enge Verbindungen zu Schweizer Nazi-Sympathisanten hatte, sich dafür einsetzte, den Söhnen und Töchtern von Hitlers Feinden zu helfen.

Wahrscheinlich ist, dass von Erlach sich inspirieren liess von den Schweizer Hilfsbemühungen nach dem Krieg in Deutschland. Dazu gehörten auch Erholungsaufenthalte für rund 44’000 unterernährte und kranke Kinder in der Schweiz.

Rahtgens sagt, dass die Kinder der Widerstandskämpfer wahrscheinlich den strengen Selektionskriterien der Schweiz – die Aktion richtete sich an die hilfsbedürftigsten unter den deutschen Kindern – nicht genügt hätten.

Rahtgens und von Hofacker und die Kinder anderer Mitglieder des Widerstandskreises waren in wohlhabenden Familien aufgewachsen. In Deutschland galten ihre Mütter aber bis 1952 als «Verräterfrauen» und erhielten weder Lebensmittel-Marken noch Unterkünfte.

Höhepunkt

«Von Erlachs Unterstützung passte nicht in den grösseren Rahmen des Schweizer Hilfsprogramms. Es gab spezifische Kriterien, wem diese Aktionen zu gute kommen sollten. Ein Hauptaspekt war, dass es keine politischen Erwägungen geben sollte», erklärt der deutsche Historiker Markus Schmitz.

«Der Umgang mit den Kindern des Widerstands war im Rahmen der Schweizer Hilfsaktionen ziemlich ungewöhnlich. Das ist vielleicht ein Grund, weshalb Historiker dieses Kapitel bisher nicht untersucht haben», fügt Schmitz hinzu.

Ein Höhepunkt der Reise in der Schweiz war der Besuch im ehemaligen Kinderheim «Maiezyt» in Habkern bei Interlaken.

Die Gruppe aus Deutschland wurde von einer Delegation der lokalen Behörden empfangen. Auch von Erlach und zwei Frauen, die damals in dem Heim gearbeitet hatten, waren mit dabei.

Als er seinen Freund aus der Kindheit wieder gesehen habe, sei es gewesen, als ob sie sich nie getrennt hätten, sagt von Erlach.

Eine der damaligen Heimmitarbeiterinnen umarmt eine der Frauen, die sie noch mit Namen kennt, und erzählt von ihren Erinnerungen an all die «gut erzogenen Kinder des Widerstands».

Botschaft an die Jugend

Rahtgens erklärt, ein Ziel seines Vereins sei, «die Jugend von heute zu erreichen. Sie sollten erfahren, was unsere Väter taten – und weshalb sie es taten. Ihr Widerstand kam zwar zu spät und schlug fehl. Aber auf der positiven Seite war ungeheuer mutig, dass sie es wagten, sich einem solch unmenschlichen Regime entgegen zu stellen.»

«Wenn es uns gelingt, die Kinder von heute zu überzeugen, dass Anstand, Achtung und Rechtsstaatlichkeit die Ziele sind, die es zu verfolgen gilt, können wir sicher sein im Wissen, dass sie nie gezwungen sein werden, solch schwerwiegende Entscheide fällen zu müssen wie unsere Väter.»

Dale Bechtel in Habkern, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

Aufgrund ihrer Neutralität habe sich die Schweiz nicht an den Hilfs- und Wiederaufbau-Operationen der Vereinten Nationen für das vom Krieg zerstörte Europa beteiligt, sagt der deutsche Historiker Markus Schmitz.

Stattdessen führte die Schweiz ihre eigenen Hilfsprogramme durch. In Deutschland wurden dazu «Schweizer Dörfer» aufgebaut. Dort wurden Kriegswaisen und verlassene Kinder untergebracht und verpflegt.

Neben frischen Früchten, Brot und Schokolade gehörte zu den Essrationen auch Ovomaltine, die in vielen Schweizer Haushalten zu den Grundnahrungsmitteln gehörte. Tausende der kränksten und schwächsten Kinder wurden zur Erholung in die Schweiz gebracht.

Daneben schickte die Schweiz Bücher an deutsche Universitäten, damit diese ihre Bibliotheken wieder aufbauen konnten.

Die Schweiz habe aus verschiedenen Gründen ein Interesse an einem stabilen Nachkriegs-Deutschland gehabt, erklärt der Historiker Schmitz: Angesichts der Furcht vor einem wachsenden Einfluss der Sowjetunion war ein stabiles Deutschland wichtig für die Schweizer Sicherheitsinteressen.

Daneben war Deutschland damals wie heute einer der wichtigsten Handelspartner der Schweiz. Auch kulturell sind die beiden Länder verbunden, durch die deutsche Sprache.

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